Spezielle Relativitätstheorie: Teil IV

Grundsätzliche Schwierigkeiten mit dem vierdimensionalen pseudoeuklidischen Raum

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Wenn wir unsere Untersuchungen weiterführen und die Ergebnisse anschaulich machen wollen, stoßen wir auf zwei grundsätzliche Schwierigkeiten:

1. Ein vierdimensionaler Raum ist – wie schon dargelegt – für uns zwar denkbar, aber nicht vorstellbar und daher auch nicht zeichnerisch oder sonst wie (etwa durch ein räumliches Modell) darzustellen.

Zwar ist es mit Hilfe der (Parallel- oder Zentral- usw.) Projektion möglich, dreidimensionale (also räumliche) Gebilde in einer zweidimensionalen Ebene (Zeichenblatt, Leinwand, Fotopapier usw.) darzustellen, und dabei mit einer Dimension weniger auszukommen. In unserer Vorstellung können wir aus der ebenen Abbildung dann wieder ein räumliches Gebilde entstehen lassen. Eine analoge Darstellung eines vierdimensionalen Gebildes mit Hilfe räumlicher, also dreidimensionaler Modelle wäre zwar denkbar, aber die Rekonstruktion des vierdimensionalen Gebildes in unserer Vorstellung würde scheitern, weil wir uns eine vierte Dimension nicht vorstellen können. So wie räumliches Vorstellungsvermögen und räumliche Erfahrung unerlässlich sind, wenn man im Geiste aus einer zweidimensionalen Abbildung das dreidimensionale Original rekonstruieren will, so wären vierdimensionale Vorstellungskraft und vierdimensionale Erfahrung nötig, wollte man in der Vorstellung aus einem dreidimensionalen Abbild ein vierdimensionales Original erstehen lassen.

Es bleibt uns daher im Folgenden nur ein Ausweg: Wir müssen bei der Darstellung auf eine der drei räumlichen Dimensionen unseres Erfahrungsraumes verzichten und die dritte Dimension (zum Beispiele die Höhe) zur Abbildung der vierten Dimension benutzen. Häufig werden wir zur Vereinfachung sogar auf zwei unserer gewohnten Dimensionen (nämlich auf Höhe und Breite) verzichten, ohne dass uns dadurch Wichtiges entginge. (Wir haben diese Vereinfachung oben bereits wiederholt benutzt.)

2. Doch selbst wenn wir uns mit der Darstellung von nur zwei Dimensionen (X und W) begnügen, gibt es eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit:

Die XW-Ebene, die wir abbilden wollen, hat eine bestimmte pseudoeuklidische Metrik, während jede Ebene unseres Erfahrungsraumes, die wir zur Abbildung benutzen könnten, euklidisch ist. Daher wird auch jedes geometrische Gebilde, das wir in irgendeiner uns verfügbaren Ebene darstellen, diese euklidische Metrik besitzen und widerspiegeln. So wird zum Beispiel in einer euklidischen Ebene die Winkelsumme eines Dreiecks immer 180° sein, und in einem rechtwinkligen Dreieck wird immer diejenige Seite die größte sein, die dem rechten Winkel gegenüber liegt. In einer pseudoeuklidischen Ebene aber kann diese Seite sehr wohl die kleinste sein.

Wie also sollten wir auf unserem »euklidischen« Zeichenpapier jemals Figuren oder Koordinatensysteme darstellen können, deren Eigenschaften einer pseudoeuklidischen Metrik entsprechen? Die Sache scheint zunächst aussichtslos zu sein. Jedoch zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass die Lorentz-Transformationen eine gewisse formale Ähnlichkeit mit den Transformationsformeln der Analytischen Geometrie für den Übergang von einem rechtwinkligen zu einem schiefwinkligen Koordinatensystem in einer euklidischen Ebene haben. Diese Ähnlichkeit der Gleichungen kann man dadurch zu einer Identität machen, dass die Einheitsstrecken auf den Achsen des schiefwinkligen Systems in einem ganz bestimmten, von der Relativgeschwindigkeit der Bezugssysteme abhängigen Verhältnis verlängert werden. Dann werden bei der Abbildung alle im System S' gelegenen Strecken entsprechend verlängert. Unter dieser Bedingung kann dann ein in einer pseudoeuklidischen Ebene gelegenes, um den Winkel α gedrehtes rechtwinkliges Koordinatensystem in einer euklidischen Ebene durch ein schiefwinkliges Koordinatensystem dargestellt werden. (Die mathematischen Details dazu finden Sie im Anhang.)

Mit diesem Trick können die relativistischen Effekte, welche die Länge und die Zeit betreffen, in einem gewissen Maß anschaulich und plausibel gemacht werden. Selbstverständlich aber vermag eine solche Darstellung nichts zu erklären, und sie kann uns nicht zu einem wirklichen Verständnis der relativistischen Effekte verhelfen. Man sollte sich beim Umgang mit diesen Darstellungen auch immer bewusst bleiben, dass es sich hier um einen Behelf handelt, um einen Trick, der zwar nützlich ist, unserer Vorstellungskraft, die auf die euklidische Metrik fixiert und begrenzt ist, physikalische Vorgänge in einem pseudoeuklidischen Raum plausibel zu machen, wenn auch um den Preis starker Verzerrungen. Denken Sie also bitte stets daran, dass die schiefwinkligen Koordinatensysteme, die Sie fortan zu sehen bekommen, in Wirklichkeit rechtwinklig sind, dass die X' -Achse in Wirklichkeit in die entgegengesetzte Richtung gedreht ist und dass die Veränderung der Einheitsstrecken auf den Achsen des schiefwinklig abgebildeten Koordinatensystems in Wirklichkeit nicht existiert. Nach dieser Warnung stelle ich Ihnen die beiden Koordinatensysteme vor:

 


Abb. 24: Abbildung eines (in der pseudoeuklidischen Ebene gelegenen) gedrehten rechtwinkligen Koordinatensystems in eine euklidische Ebene

Die X' - und die W' -Achse sind um den gleichen Winkel α gedreht, allerdings in entgegengesetzten Richtungen. Der Winkel α hängt von der Relativgeschwindigkeit der beiden Bezugssysteme wie folgt ab:

tan α = v/c =: ß

Wegen der Gleichberechtigung der Bezugssysteme kann man genauso gut das X'W' -System als rechtwinklig darstellen und das XW-System als entsprechend verzerrt – allerdings mit jeweils entgegengesetzt gedrehten Achsen:

 


Abb. 25: Das System S’ wird rechtwinklig dargestellt

Ferner ist zu bedenken, dass die Darstellungen der Abbildungen 24 und 25 nur für die Zeit t = 0 gelten. Wie oben beschrieben wurde, bewegen sich die X- und die X' -Achse an der W- bzw. W' -Achse mit Lichtgeschwindigkeit nach oben. Wohlgemerkt: Nur die X- und die X' -Achse (allgemein: die dreidimensionalen Erfahrungsräume) bewegen sich, während der (gemeinsame) Nullpunkt der W- und der W' -Achse sich nicht bewegt. Das hat zur Folge, dass die Lorentz-Transformationen, die ja den Übergang von einem rechtwinkligen zu einem schiefwinkligen Koordinatensystem mit demselben Ursprung repräsentieren, dieses auch dann noch tun, wenn die Nullpunkte der X- und der X' -Achse infolge ihrer Bewegung nicht mehr zusammenfallen.

Schließlich möchte ich nochmals daran erinnern, dass die X- und die X' -Achse lediglich die eindimensionalen Stellvertreter für dreidimensionale Erfahrungsräume sind, nämlich für den XYZ-Raum und den relativ dazu bewegten X'Y'Z' -Raum. Diese dreidimensionalen Räume können nicht zusammen mit der W- und der W' -Achse dargestellt werden. Man muss also daran denken, dass sich der XYZ-Raum (in dem das Bezugssystem S liegt) mit Lichtgeschwindigkeit längs der W-Achse nach oben bewegt, während sich der X'Y'Z' -Raum (in dem das Bezugssystem S' liegt) sich mit derselben Geschwindigkeit längs der W' -Achse bewegt. Dabei bewegen sich die Nullpunkte der beiden Räume und Bezugssysteme wie vorausgesetzt mit der Geschwindigkeit v gegeneinander in Richtung der X- bzw. X' -Achse. (Dies hängt damit zusammen, dass tan α = v/c ist.) Wenn ich mich fortan in den Abbildungen mit eindimensionalen Erfahrungsräumen begnüge, bitte ich Sie doch, sich immer wieder einmal bewusst zu machen, dass diese nur Stellvertreter für dreidimensionale Erfahrungsräume sind.

 

Erprobung und Anwendung des Minkowski-Raumes

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Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit

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Da die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter die Voraussetzung unserer Untersuchungen und Herleitungen war, können wir sie nicht mit Hilfe des Minkowski-Raumes beweisen – das wäre ein Zirkelschluss. Aber wir können die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Minkowski-Raum verifizieren, das heißt, wir können zeigen, dass in allen Bezugssystemen im Minkowski-Raum die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich dieselbe ist:

Ein Lichtblitz, der zur Zeit t = 0 im Ursprung startet und sich nach rechts in Richtung der X-Achse ausbreitet, bewegt sich im Minkowski-Raum auf der Winkelhalbierenden der X- und W-Achse in der Ausgangslage, weil sich die X-Achse genau so schnell nach oben bewegt, wie sich der Lichtblitz auf der X-Achse nach rechts bewegt. Die folgende Abbildung zeigt die Lage der X- und X' -Achse zur Zeit t = 0 und t = t 1

 
Abb. 26: Bewegung eines Lichtblitzes, der sich auf der X-Achse ausbreitet, im Minkowski-Raum

Die Winkelhalbierende der X- und W-Achse in der Ausgangslage ist aber zugleich auch die Winkelhalbierende der X' - und W' -Achse. Daher bewegt sich der Lichtblitz auch im System S' genau so schnell nach rechts, wie dieses sich nach oben bewegt, also mit Lichtgeschwindigkeit.

 

Vergangenheit und Zukunft und die Relativität der Gleichzeitigkeit

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Die Erfahrungsräume bewegen sich im Minkowski-Raum mit Lichtgeschwindigkeit »nach oben«, das heißt in Richtung der vierten Dimension oder in Richtung der W- bzw. W' -Achse. Was in unserer Vorstellung der Zeit die Zukunft bzw. die Vergangenheit ist, liegt im Minkowski-Raum räumlich über bzw. unter dem Erfahrungsraum. Die Lage des Erfahrungsraumes zu irgendeiner Zeit entspricht für die Beobachter in diesem Raum der Gegenwart. Da die W' -Achse gegenüber der W-Achse gedreht ist, bewegt sich die X' -Achse in einer anderen Richtung durch den Minkowski-Raum als die X-Achse. Für das System S' liegen Zukunft und Vergangenheit also in einer anderen Richtung des Raumes als für das System S. Mathematisch ausgedrückt hat die Richtung der Zukunft im System S' eine Komponente in Richtung der X-Achse des Systems S, das heißt, sie liegt zum Teil in Richtung der X-Achse des Systems S, also in Richtung des euklidischen Erfahrungsraums des Systems S. Dies weist auf eine enge Verbindung und Verwandtschaft dessen, was wir Zeit nennen, mit dem Raum hin.

Entsprechendes gilt für die Drehung der X' -Achse, wodurch auch der entsprechende Erfahrungsraum gedreht wird. Diese Drehung erfolgt in Richtung Zukunft (nach oben) oder Vergangenheit (nach unten) des Systems S. Je weiter ein Punkt der X' -Achse vom Ursprung O' entfernt ist, umso weiter befindet er sich gegenüber diesem Punkt in der Zukunft oder der Vergangenheit eines Beobachters in S. Für einen Beobachter in S' aber bestimmt die Lage seiner X' -Achse, was für ihn gegenwärtig und gleichzeitig ist. Für ihn sind die Punkte der X' -Achse – und nur sie – gegenwärtig (und wahrnehmbar), und alle Uhren der X' -Achse zeigen dieselbe Zeit an.

Umgekehrt befinden sich die Beobachter im System S umso weiter in der Vergangenheit oder Zukunft des Systems S' , je weiter sie von O entfernt sind.

 
Abb. 27: Die Beobachter in einem System befinden sich in der Gegenwart ihres Systems, aber in der Vergangenheit oder Zukunft des anderen Systems.

Die Drehung der X' -Achse veranschaulicht auch die Relativität der Gleichzeitigkeit. Im System S' sind andere Punkte des Minkowski-Raumes gleichzeitig gegenwärtig als im System S. Anders ausgedrückt: Ereignisse, die im System S gleichzeitig sind, sind es im System S' nicht, und ein Ereignis, das im System S gerade gegenwärtig ist (gerade eintrifft oder geschieht), kann im System S' noch in der Zukunft oder bereits in der Vergangenheit liegen. Dies soll am Gedankenexperiment mit den zwei Blitzen gezeigt werden, die im System S gleichzeitig – und zwar zur Zeit t = 0 – an verschiedenen Punkten der X-Achse einschlagen.

 
Abb. 28: Zwei Blitzeinschläge, die im System S gleichzeitig erfolgen

In dem Moment, da der Blitz in O und O' einschlägt, liegt der Ort des anderen Blitzeinschlags für einen Beobachter in S' unterhalb seiner X' -Achse, also bereits in der Vergangenheit. Für ihn war dieser zweite Blitzeinschlag gegenwärtig und hat für ihn stattgefunden, als die X' -Achse durch den Einschlagpunkt ging (siehe Abbildung 28). Seine Uhr an dieser Stelle zeigt dieselbe Zeit wie die Uhr in dem Punkt, an dem sich der Nullpunkt der X' -Achse gerade befindet. Dieser Punkt liegt auf der W' -Achse unterhalb von O' , und ihm entspricht daher eine negative Zeit t' .

 

Uhren und Ortskoordinaten in beiden Systemen

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Es sollen nun mit Hilfe des Minkowski-Raumes die im Kapitel 1.4 in Teil II dargestellten Ergebnisse untersucht werden. Insbesondere fragen wir: Wie können die dort berechneten und dargestellten unterschiedlichen Anzeigen der Uhren und die Veränderungen der Ortskoordinaten »erklärt« werden?

 
Abb. 29: Längenkoordinaten und Zeiten in zwei Bezugssystemen vom System S aus gesehen

Dazu müssen wir etwas ausholen. Ich muss zunächst daran erinnern, dass für einen Beobachter im System S nur gegenwärtig und wahrnehmbar ist, was in den Punkten seiner X-Achse (allgemeiner: seines Erfahrungsraumes, also des XYZ-Raumes) anwesend ist. Alles, was »darüber« liegt oder geschieht, ist für ihn noch zukünftig, alles, was »darunter« liegt oder geschieht, ist für ihn bereits vergangen.

Wenn nun die X' -Achse gegenüber der X-Achse um den Nullpunkt gedreht wird, so hat das zur Folge, dass alle Punkte der X '-Achse (außer O' ) aus dem Erfahrungsraum des Beobachters in S verschwinden. (Übrigens: Dieses Problem scheint es für Minkowski und seine Nachfolger nicht gegeben zu haben: Sie interpretieren die Drehung der X' -Achse ja lediglich als eine »Drehung in der Zeit«.)

Die Drehung im Raum allerdings scheint der Erfahrung völlig zu widersprechen: Ein schnell bewegter Zug zum Beispiel verschwindet nicht von den Schienen und aus unserer Wahrnehmung. (Und es wäre auch gar nicht einzusehen, warum gerade der ganz willkürlich gewählte Nullpunkt sichtbar bleiben sollte.) Nein – es bleiben sämtliche Punkte des Zuges (der X' -Achse) – auf dem Bahndamm (der X-Achse) anwesend, aber die verschiedenen Punkte des Zuges stammen aus verschiedenen Zeiten oder – im Minkowski-Raum gesehen – aus verschiedenen Höhenlagen in der vierten Dimension (der W' -Achse). Dies soll hier für die wichtigsten Punkte (O, A, B, C, und D) dargestellt werden. Man muss sich jedoch vorstellen, dass durch jeden Punkt der X-Achse eine X' -Achse aus einer anderen Zeit – mit einer anderen W' -Koordinate – geht.


 
Abb. 30: Durch jeden Punkt der X-Achse geht eine X' -Achse aus einer anderen Zeit

Das bedeutet aber: Wir müssen uns im Minkowski-Raum eine Ebene vorstellen, die dicht mit X'-Achsen ausgefüllt ist, von denen jede aus einer anderen Zeit stammt und die alle gleichzeitig anwesend sind – wenngleich ein Beobachter in S von jeder jeweils nur einen einzigen Punkt wahrnimmt.


 
Abb. 31: Eine Ebene von X' -Achsen im Minkowski-Raum

Dies ist ein Hinweis darauf, dass unser Erfahrungsraum tatsächlich nur ein dreidimensionaler Ausschnitt aus einer vierdimensionalen Realität ist. Der von uns wahrgenommene und als gegenwärtig empfundene Ausschnitt bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit durch die vierdimensionale Realität. Zwei relativ zueinander bewegte Erfahrungsräume bewegen sich in verschiedenen Richtungen durch die vierdimensionale Realität. Jeder dreidimensionale Erfahrungsraum steht auf seiner Bewegungsrichtung stets senkrecht und wird daher bei Änderung der Bewegungsrichtung – der Richtung seiner W-Achse – ebenfalls gedreht. Damit aber ändert sich der Schnitt durch die vierdimensionale Realität. Als Folge davon werden in dem einen Erfahrungsraum andere Gegenstände und Ereignisse als gleichzeitig vorhanden oder gegenwärtig wahrgenommen als im anderen Erfahrungsraum. (Auch dies ist ein Effekt, der von Minkowski und Einstein nicht erwähnt wird. Die späteren Autoren scheinen dann einer vom anderen abgeschrieben zu haben, ohne selbst allzu viel nachgedacht zu haben.)

Diese Überlegungen führen zu dem Ergebnis, dass alle Ereignisse und alle Körper nicht nur für die Dauer ihrer Anwesenheit in unserem Erfahrungsraum existieren, sondern bereits zuvor und noch danach vorhanden sind. (Dies schließt nicht aus, dass Körper und Ereignisse in einem bestimmten Bereich der Zukunft von unserem jeweils gegenwärtigen Ort aus beeinflusst werden können.) Das bedeutet: Die von uns wahrgenommenen Körper sind dreidimensionale Schnitte von vierdimensionalen Körpern, die im Minkowski-Raum fortwährend anwesend sind. Durch die Bewegung unseres Erfahrungsraumes beobachten wir zeitliche Veränderungen an den dreidimensionalen Schnitten dieser Körper, die (wie die Veränderungen des Kreises in Abbildung 19 aus dem Exkurs1 in Teil III) nur durch die Bewegung unseres Erfahrungs- oder Wahrnehmungsraumes zustande kommen. Dieser ist identisch mit der Gesamtheit dessen, was wir in einem gegebenen Augenblick wahrnehmen (oder jedenfalls wahrnehmen könnten). Dies führt direkt zu der Annahme, dass sich im Grunde lediglich unser Bewusstsein (genauer: das, was die Psychologie als Gegenwartsbewusstsein bezeichnet) durch den Minkowski-Raum bewegt.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Beobachtungen, die diese Überlegungen stützen und die unter striktesten Bedingungen gewonnen wurden. Eine Zusammenfassung dieser Beobachtungen (sowie zahlreiche Quellenangaben dazu) finden sich im Kapitel 9 von Lynne McTaggart, Das Nullpunkt-Feld, München 2007.

Mit der unterschiedlichen Beurteilung der Gleichzeitigkeit hängt auch die unterschiedliche Wahrnehmung der Ausdehnung von Körpern in der Bewegungsrichtung zusammen. Um dies deutlich zu machen, müssen wir überlegen, wie eigentlich die Länge eines Körpers gemessen wird. Wenn der Körper sich relativ zum Beobachter nicht bewegt, ist die Sache kein Problem. Die Lage des Anfangs- und des Endpunkts des Körpers wird auf einem Maßstab (zum Beispiel auf der X-Achse) abgelesen und dann der Abstand der beiden Marken berechnet. Er ist zum Beispiel die Differenz der Koordinaten der beiden Punkte:

l = x2 - x1

Was aber, wenn sich der Körper am Beobachter vorbei bewegt? Nun, der Messvorgang bleibt der gleiche, nur muss man jetzt strikt darauf achten, dass die Ablesung der Anfangskoordinate x(A) und die der Endkoordinate x(E) auf dem Maßstab genau zur selben Zeit geschieht. Liest man die Anfangskoordinate früher ab als die Endkoordinate (in der Abbildung rot gezeichnet), erhält man für die Länge einen zu kleinen Wert; liest man die Anfangskoordinate dagegen später ab als die Endkoordinate (grün gezeichnet), erhält man einen zu großen Wert.


 
Abb. 32: Messung der Länge eines bewegten Stabes

Was aber, wenn sich die Beobachter in zwei Bezugssystemen nicht darüber einig sind, was für sie »gleichzeitig« ist – und zwar nicht wegen fehlerhafter Uhren, sondern wegen der grundsätzlichen Relativität der Gleichzeitigkeit? Nun, dann hat der Körper für die beiden Beobachter eben unterschiedliche Längen. Man beachte dabei, dass die Längen tatsächlich unterschiedlich sind und es nicht nur zu sein scheinen.

Auch dies soll im Minkowski-Raum dargestellt werden.


 


Abb. 33: Die Relativität der Länge als Folge der Relativität der Gleichzeitigkeit


Wie man sieht, liest der Beobachter in S – von S' aus beurteilt – die Lage des Punktes A zu früh ab und erhält daher für die Strecke OA einen zu kleinen Wert.

Auch der direkte Vergleich der Strecken in der Zeichnung nach dem Augenschein zeigt, dass die Strecken in S kürzer ausfallen als in S' , selbst wenn man berücksichtigt, dass auf der X' -Achse andere Einheitslängen gelten.

Auch hier erkennt man, dass die betrachteten Strecken im Grunde (eindimensionale) Schnitte von (zweidimensionalen) schrägen Streifen im Minkowski-Raum sind, und dass in beiden Systemen diese Streifen anders geschnitten werden und daher die Schnitte unterschiedliche Längen haben.


 

Uhrenvergleich

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Verfolgen wir nun den Uhrenvergleich (Kap. 1. 3 in Teil II) im Minkowski-Raum:

1. Die Uhr im Nullpunkt des Systems S' werde von S aus beobachtet und zur Zeit t = 0 und dann zur Zeit t = 1 µs mit der ihr gegenüberstehenden Uhr des Systems S verglichen. Im Minkowski-Raum stellt sich das so dar:


 
Abb. 34: Uhrenvergleich vom System S aus


Die betrachtete Uhr im System S' bewegt sich in einer Sekunde von O' nach A.

Die Strecke O'A = w' 1 ist in der Abbildung größer als die Strecke OB = w1. Tatsächlich ist sie (genauer: ihr Größenwert) jedoch kleiner als w1, weil die Einheitsstrecke e’ größer ist als e. Also ist die entsprechende Zeit t' 1 kleiner als 1 µs. (Die Verlängerung von e’ gegenüber e ist in der Abbildung erkennbar; genauere Angaben darüber im Anhang.)

Eine Erklärung der Verlangsamung der Uhren – und das bedeutet letztlich: des gesamten Zeitablaufs im System S' – für einen Beobachter im System S ist folgende: Beide Bezugssysteme bewegen sich im Minkowski-Raum mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung »ihrer« vierten Dimension, in Richtung »ihrer« Zukunft. Von S aus beurteilt hat die Bewegung des Systems S' jedoch eine Komponente in Richtung der X-Achse, also ist ihre Bewegung in Richtung der W-Achse – das heißt, in Richtung Zukunft des Systems S – verlangsamt. Anders gesagt: Das System S' bewegt sich für einen Beobachter in S langsamer in Richtung Zukunft als das System S, was zur Folge hat, dass für einen Beobachter in S die Zeit in S' langsamer abläuft und die Uhren langsamer gehen.

Die »Retardierung« der Zeit lässt sich auch durch eine einfache Rechnung aus der pseudoeuklidischen Struktur des Raumes herleiten: Der Punkt A hat in den beiden Koordinatensystemen die Koordinaten

x1 = v · 1 µs; w1= c · 1 µs; x’ 1 = 0; w’ 1 = c · t’ 1.

Wegen der pseudoeuklidischen Metrik ist

w2 - x2 = w' 2 - x' 2

Mit den entsprechenden Werten und x’ 1 = 0 ergibt sich:

w12 - x12 = w' 12,


woraus folgt, dass w' 1 < w1 ist.


Setzt man die oben stehenden Werte ein, so findet man

 


2. Das Entsprechende gilt natürlich auch, wenn wir den Vorgang vom System S' aus betrachten. Nun kommt das System S in Richtung Zukunft (des Systems S' ) langsamer voran. Das sieht dann so aus: Wir betrachten vom System S' aus die Uhr, die im Nullpunkt des Systems S ruht, nach 1 Sekunde – gemessen in S' .


 
Abb. 35: Uhrenvergleich vom System S' aus

Hier ist die Strecke OC kleiner als die Strecke OA, also geht jetzt die Uhr in S gegenüber der Uhr in S' nach, und zwar im gleichen Maß wie vorher bei vertauschten Systemen. Dies ist kein Widerspruch zu dem oben Gesagten, denn einmal wird bei dem Uhrenvergleich der Gleichzeitigkeitsbegriff des Systems S benutzt (Beobachter in A), beim anderen Mal der des Systems S' (Beobachter in C). Zudem gibt es eine systemunabhängige Beschreibung des Effekts, die für beide Fälle zutrifft: Es geht diejenige Uhr langsamer, die sich gegenüber dem Beobachter bewegt. Im ersten Fall bewegt sie sich relativ zur X-Achse, im zweiten Fall relativ zur X' -Achse. Je größer der Weg ist, den die Uhr dabei auf der X-Achse bzw. der X' -Achse zurückgelegt hat, desto mehr geht die Uhr nach.


Das so genannte Zwillingsparadoxon

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Unter dem Zwillingsparadoxon versteht man folgende Kuriosität: Einer von zwei Zwillingsbrüdern reist eine längere Zeit mit großer Geschwindigkeit umher. Nach der Rückkehr ist er weniger gealtert als sein Bruder. Bei entsprechender Geschwindigkeit ist es zum Beispiel möglich, dass der eine Bruder zehn Jahre älter geworden ist, der andere aber nur fünf.

Als paradox – als in sich widersprüchlich – wird dieser Vorgang bezeichnet, weil in den frühen Jahren der Relativitätstheorie ihre Kritiker glaubten, die Theorie widerlegen zu können, indem sie auf einen – scheinbaren – Widerspruch hinwiesen. Sie meinten, wegen der von der Relativitätstheorie behaupteten Gleichberechtigung der Bezugssysteme müsse jeder der beiden Brüder jünger geblieben sein als der andere, und das wäre natürlich widersprüchlich.

Schon Einstein hat darauf geantwortet, dass die Bezugssysteme der beiden Brüder nicht in jeder Hinsicht gleichberechtigt sind. Zwar ist die Lichtgeschwindigkeit nach wie vor in beiden Systemen dieselbe, aber das eine System hat (nämlich bei seiner Umkehr) eine Beschleunigung erfahren, und das andere nicht. Daher ist auch nur einer der beiden Brüder jünger geblieben als der andere.

Das lässt sich im Minkowski-Raum sehr anschaulich zeigen. Ich stelle dazu zwei Fälle einander gegenüber. Im ersten Fall entfernt sich der eine Bruder – Moritz – zunächst vom Ausgangspunkt, kehrt dann irgendwann um und fährt zurück.


 
Abb. 36: Moritz kehrt zu Max an den Ausgangspunkt zurück.


Die beiden Brüder könnten aber auch dadurch wieder zusammenkommen, dass der erste Bruder – Max – dem anderen nachreist und ihn schließlich einholt. Das sieht im Minkowski-Raum dann etwa so aus:


 
Abb. 37: Max reist Moritz nach und holt ihn ein.


Beide Fälle sind objektiv sehr wohl voneinander zu unterscheiden, nämlich daran, dass die eine Bahn geknickt (oder gekrümmt) ist, die andere dagegen nicht. Anders ausgedrückt: Es ist objektiv entscheidbar, welcher von den beiden Brüdern zum Ausgangspunkt und damit zum anderen zurückkehrt. Und (nur) der Rückkehrer ist derjenige, der weniger altert. Im ersten Fall (Abb. 36) ist dies Moritz, im zweiten Fall dagegen Max. Also: Reisen bildet nicht nur, es erhält auch jünger.

Der eigentliche Grund dieses Effektes liegt wiederum in der pseudoeuklidischen Struktur des Raumes: Wer im Minkowski-Raum einen Umweg zwischen zwei Punkten macht, braucht dazu weniger Zeit. Wer sich auf dem geraden Weg bewegt, braucht am längsten.

Dies lässt sich durch eine einfache Rechnung belegen. Wir betrachten dazu erst den unteren Teil der folgenden Abbildung:


 
Abb. 38


Der Punkt P habe im System S die Koordinaten (x, w) und im System S' die Koordinaten (x' = 0, w' ). Wegen der Metrik des Raumes gilt:

w' 2 - x' 2 = w2 - x2

und mit x' = 0:

w' 2 = w2 - x2   und somit   w' 2 < w2

Für die obere Hälfte der Abbildung gilt wegen der Kongruenz der beiden Teildreiecke dasselbe. Ein entsprechendes Ergebnis kann auch für unsymmetrische Figuren und – mit etwas mehr Mathematik – auch für beliebig gekrümmte Bahnen gewonnen werden.


Fortsetzung: Spezielle Relativitätstheorie: Teil V

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