Soziologische Klassiker/ Sherif, Muzafer

Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten

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Sherif Muzafar

geboren am 29. Juli 1906 in Odemis, Izmir, Türkei als zweites von fünf Kindern gestorben am 16. Oktober 1988 in Fairbanks, Alaska


Ehefrau: Carolyn Wood Sherif (1922-1982), Heirat 1945, war ebenfalls Sozialpsychologin und arbeitete eng mit ihrem Ehemann zusammen.

Kinder: Drei Töchter: Sue (1947), Joan (1950), Ann (1955)


Lebenslauf

  • 29. Juli 1906 geboren als zweites von fünf Kindern in Odemis, Izmir, Türkei. Hieß ursprünglich Muzafer Serif Basoglu, änderte später jedoch seinen Namen in Muzafer Sherif.
  • Mai 1919 Sherif wird im Zuge einer Invasion durch die Griechen auf seine Heimat Izmir während des Griechisch-Türkischen Krieges als 12jähriger beinahe von einem griechischen Soldaten getötet.
  • 1927 Bachelor of Arts für Psychologie am American International College in Izmir.
  • 1929 Master of Arts an der Universität Istanbul, Zuerkennung eines Auslandsstipendiums, daraufhin Übersiedlung in die USA und Studium an der Harvard Universität.
  • 1929-1932 Studium in Harvard, Sherif beschäftigte sich dort nicht nur mit Psychologie, sondern auch mit Politikwissenschaften und Soziologie.
  • 1932 zweiter Master of Arts an der Universität Harvard.
  • 1933-1934 Aufenthalt in Berlin, besucht dort Vorlesungen von Wolfgang Köhler, welcher die Berliner Schule für Gestaltpsychologie gründete. Köhler muss 1935 aufgrund seiner Opposition gegenüber dem NS-Regime in die USA emigrieren.
  • 1935 erlangt er den Doktortitel, der Name seiner Dissertation lautet Some Social Factors In Perception. Diese schreibt er unter

Gardner Murphy an der Columbia Universität in New York.

  • 1936 betreibt er einige Monate Forschungsarbeit in Paris.
  • 1937-1944 Rückkehr in die Türkei an das Gaza Institut in Ankara, lehrt hier als Assistenzprofessor für Psychologie, übersetzt mit Hilfe seiner Studenten wichtige Werke der Psychologie ins Türkische. Veröffentlicht in dieser Zeit auch zahlreiche Artikel, die sich gegen das NS-Regime richten und in der Türkei erheblichen Einfluss haben.
  • 1944 Aufgrund seiner Kritik am NS-Regime handelt er sich in der Türkei eine Gefängnisstrafe ein, die zunächst auf 27 Jahre festgelegt wird. Angesichts der Tatsache, dass die Allierten den Krieg vermutlich gewinnen würden und auf Drängen ehemaliger Harvard-Studenten hin, lässt die türkische Regierung das Urteil gegen ihn fallen. Nach vier Monaten Haft ist Sherif wieder frei. Sherif emigriert daraufhin in die USA.
  • 1945 zweijährige Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Princeton, begegnet dort Carolyn Wood, welche er noch im selben Jahr heiratet.
  • 1947-1949 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Yale Universität, führt dort einige seiner bekanntesten und einflussreichsten Experimente durch.
  • 1949-1966 Professor für Psychologie an der Universität Oklahoma.
  • 1954 führt er gemeinsam mit seiner Frau Carolyn das berühmte Robber´s Cave Experiment durch.
  • 1955 wird er an der Universität Oklahoma Direktor des Instituts für Gruppenbeziehungen.
  • 1958 Gastprofessor an der Universität Texas.
  • 1963 wird er Ratsmitglied der Psychological Association (APA).
  • 1965 Gastprofessor an der Pennsylvania State University.
  • 1966 Professur für Soziologie.
  • 1967 erhält er den Kurt Lewin Memorial Award.
  • 1968 wird ihm der Distinguished Scientific Contribution Award der APA verliehen.
  • 1978 erhält er den Distinguished Senior Social Psychologist Award und als erster überhaupt den Cooley-Mead Award der American Sociological Society.

16. Oktober 1988 Muzafer Sherif stirbt an einem Herzinfarkt in Fairbanks, Alaska.


Historischer Kontext

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Der Griechisch-Türkische Krieg von 1919-1923 war für Mustafer Sherif prägend. Während der Invasion durch die Griechen auf seine Heimat Izmir wäre der damals 12jährige Sherif beinahe von einem griechischen Soldaten getötet worden. Der Soldat hatte bereits das Gewehr auf Sherif gerichtet, drehte aber im letzten Moment ab und erschoss ihn nicht. "Es ist ein Wunder, dass ich lebe" sagte Sherif über diesen Vorfall. Diese Begebenheit und die Tatsache, dass er in einem ständigen Konfliktfeld zwischen Türken, Griechen und Armeniern aufwuchs, prägten Sherif so stark, dass er beschloss, sein Leben der Erforschung von Gruppenkonflikten zu widmen.

Der Börsenkrach in den USA 1929 war für Sherif, der in eben diesem Jahr nach Amerika kam, ebenfalls beeindruckend. "Ich dachte zunächst, ich wäre in einem Paradis auf Erden gelandet" sagte Sherif, "aber als ich die Folgen des Börsenkrachs mitbekam, sah ich alles mit einem realistischerem Blick." In der Tat begingen viele Menschen Selbstmord, Börsenmakler erschossen sich, Menschen sprangen aus dem Fenster, plötzlich gab es viele Obdachlose, die auf Zeitungen im Park schlafen mussten. Sherif führte daraufhin Studien durch, die sich mit dem Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die Wahrnehmung der Betroffenen beschäftigten. Dabei fand er z.B. heraus, dass viele Arbeitslose oft nicht wissen, welcher Wochentag gerade ist, da es für sie keine Rolle spielt.

Während seines Aufenthalts in Berlin 1933/34 erlebte Sherif, wie Hitler an die Macht kam. Die Tatsache, dass Hitler es schaffte, nahezu eine ganze Nation zu manipulieren, war für Sherif faszinierend. Dabei richtete sich sein Augenmerk vor allem auf die "Slogans", derer sich die Nazis bedienten. Er untersuchte generell den Einfluss, den Slogans, wie z.B. "Liberté, Egalité, Fraternité" auf Massen ausüben. Durch seine Studien kam er zu dem Schluss, dass Slogans die Einstellung von Menschen manipulieren und dazu beitragen, soziale Normen zu ändern. Die Schlüsse, die er aus dieser Erkenntnis zog, wurden sein Hauptforschungsgebiet und waren auch Thema seiner Doktorarbeit "Some Social Factors In Perception".

Während des Zweiten Weltkriegs 1944 wurde Sherif in der Türkei inhaftiert, da er sich in zahlreichen Artikeln gegen das NS-Regime richtete und in der Türkei damit einen großen Einfluss ausüben konnte. Seine Haftstrafe wurde zunächst auf 27 Jahre festgesetzt. Erst als absehbar war, dass die Alliierten den Krieg gewinnen würden, erließ die türkische Regierung - auf Drängen ehemaliger Harvardstudenten hin - die Strafe und so kam er nach vier Monaten Haft frei. Aufgrund dieses Ereignisses emigrierte er noch im selben Jahr in die USA, wo seine große Forscherkarriere ihren Beginn fand.


Theoriegeschichtlicher Kontext

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Der Grund, weshalb Sherif sich 1929 dazu entschied, mit seinem Auslandsstipendium nach Harvard zu gehen, war, dass William James von 1872-1907 dort gelehrt hatte. Er war eines von Sherifs Vorbildern. James entwickelte schon früh Theorien, die grundlegende Ideen des Behaviorismus und der Gestaltpsychologie vorweg nahmen. Der Begriff der Gestalt verweist auf ein bedeutsames, einheitliches Ganzes, welches der Gegenstand der psychologischen Forschung sein sollte, im Gegensatz zu Wundts Molekularismus in der Psychologie. Diesem Gedanken schlossen sich auch andere Vorbilder Sherifs an, wie z.B Wolfgang Köhler, Kurt Koffka oder Max Wertheimer. Köhler betrieb Forschung über Wahrnehmungs-, Denk-, Lern- und Motivationspsychologie und begründete zusammen mit Wertheimer, Lewin und Duncker die Berliner Schule der Gestaltpsychologie. Sherif hörte sich 1933/34 Vorträge Köhlers in Berlin an und musst später genau wie Köhler aufgrund seiner Kritik am NS-Regime in die USA emigrieren. Ebenso wie Sherif beschäftigten sich in den 30er Jahren auch Jakob Moreno, William White und besonders Kurt Lewin mit der Kleingruppenforschung. Man kann sie als Gründungsväter der Sozialpsychologie ansehen. Zur etwa gleichen Zeit wie Sherif führte auch Solomon Asch (1951) Studien durch, die die Parameter normativen sozialen Einflusses untersuchten. In seinem berühmten Linienexperiment konnte Asch zeigen, dass sich Menschen nicht nur in zweideutigen sozialen Situationen gruppenkonform verhalten (wie von Sherif angenommen), sondern auch in eindeutigen.


  • Some Social Factors in Perception (Doktorarbeit, 1935)
  • The Psychology of Social Norms (1936)
  • The Psychology of Egoinvolvements (1947)
  • An outline of Social Psychology (1948)
  • Social Psychology at the Crossroads (1951)
  • Group Relations at the Crossroads (1953)
  • Groups in Harmony and Tension (1953)
  • Emerging Problems in Social Psychology (1957)
  • Intergroup Conflict and Cooperation: The Robber´s Cave Experiment (1961)
  • Social Judgment: Assimilation and Contrast Effects in Communication and Attitude Change (1961)
  • Intergroup Relations, and Leadership (1962)
  • Reference groups: An Exploration of Conformity and Deviance of Adolescence (1964)
  • Attitudes and Attitude Change (1964)
  • Problems of Youth: Transition to Adulthood in a Changing World (1965)
  • In Common Prediciment (1966)
  • Social Interaction, Process and Products (1967)
  • Reference Scale and Placement of Items with the Own Categories Technique (1968)
  • Interdisciplinary Relationships in the Social Sciences (1969)
  • Social Psychology (1969)
  • On the Relevence of Social Psychology (1970)
  • Norm Change over Subject Generations as a Function of Arbitrariness of Prescribed Norms (1976)
  • Crisis in Social Psychology: Some Remarks Toward Breaking Through the Crisis (1977)


Experimente und Theorien

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Der autokinetische Effekt - Theorie des informativen sozialen Einflusses

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Bei diesem Experiment, welches Sherif 1936 durchführte, bediente er sich einer visuellen Illusion, dem so genannten autokinetischen Effekt: Befindet sich eine Versuchsperson in einem völlig abgedunkelten Raum, in dem ein stationär, also feststehender Lichtstrahl an die Wand projiziert wird, dann erscheint es der Person so, als würde sich dieser Lichtstrahl stark hin- und her bewegen. Das liegt daran, dass sie in der Dunkelheit keinen stabilen Bezugspunkt hat. Sherif führte das Experiment an vier aufeinander folgenden Tagen durch. Am ersten Tag untersuchte er die Personen einzeln. In insgesamt einhundert Durchgängen sollte die Person schätzen, wie stark sich das Licht bewegt. Jede Person entwickelte eine individuelle Norm, die um ca. +/- 2 Zoll um den jeweiligen Schätzwert schwankte. An den drei nachfolgenden Tagen wurde die Untersuchung mit denselben Personen, aber in einer Gruppe zu je drei Probanden durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass egal, wie weit die Einzelschätzungen der Versuchspersonen zuvor auseinander lagen, sie in der Gruppe zu einem gemeinsamen Normwert gelangten. Später modifizierte Sherif sein Experiment, in dem er am ersten Tag die Gruppennorm festlegen ließ und an den nachfolgenden Tagen die Einzelnormen. Hier zeigte sich jedoch nicht das umgekehrte Phänomen: die Personen hielten bei ihren Einzelschätzungen an der zuvor festgelegten Gruppennorm fest.

Daraus entwickelte Sherif die Theorie des informativen sozialen Einflusses. Diese besagt, dass der Einfluss anderer Menschen zu Konformität führt, da wir sie als Informationsquelle betrachten. In einer zweideutigen Situation, wie in der des autokinetischen Effekts, sehen wir das Urteil anderer als korrekter an, als unser eigenes und verwenden es als Anker, um einen angemessenen Verlauf unserer Handlungen zu wählen.

Das Robber´s Cave Experiment - Theorie des realistischen Gruppenkonflikts

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Im berühmten Robber´s Cave Experiment untersuchten Muzafer und Carolyn Sherif 1954 den Ursprung von Gruppenkonflikten. Das Experiment bekam seinen Namen, weil es in einem 0,8 qkm großen Jungencamp durchgeführt wurde, welches komplett vom Robber´s Cave State Park in Oklahoma umgeben ist. Der Ablauf war folgendermaßen: 22 normale, gut angepasste 11jährige Jungen wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt: den Adlern und den Klapperschlangen. In der ersten Phase des Experiments wurde dafür gesorgt, dass die beiden Gruppen untereinander in keinem Kontakt standen. Dafür wurde jedoch der Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Gruppen durch gemeinsame positive Aktivitäten, wie Schwimmen oder Projektarbeit gestärkt. In der zweiten Phase versuchte man, ein Konkurrenzgefühl zwischen den Adlern und den Klapperschlangen herzustellen. Die Gruppen traten in einer Reihe von Wettbewerben wie Fußball oder Tauziehen gegeneinander an, wobei der siegreichen Gruppe Preise verliehen wurden. Man provozierte noch eine Reihe anderer Vorfälle, die die Konflikte zwischen den Gruppen intensivierten. In der dritten Phase versuchte man nun, die Konflikte zwischen den Gruppen wieder abzubauen. Dabei zeigte sich, dass man einen einmal entstandenen Konflikt nicht reduzieren kann, in dem man schlicht eine konkurrenzlose Atmosphäre schafft. Vielmehr muss man ein übergeordnetes Ziel formulieren, das die Gruppen nur durch gemeinsame Zusammenarbeit erreichen können. Den Jungen im Camp wurde aufgetragen, gemeinsam eine Blockhütte zu bauen, was nur durch Zusammenarbeit aller möglich war. Tatsächlich konnte man so den Konflikt zwischen den Gruppen abbauen.

Bei diesem Experiment wurde ein sogenannter realistischer Gruppenkonflikt provoziert. Sherif stellte fest, dass das Eigen-gegen-Fremd-Gruppe-Phänomen durch tatsächliche ökonomische, politische oder Statuskonkurrenz verstärkt wird und in Vorurteilen und Diskriminierung mündet. Besonders wichtig ist seine Erkenntnis, wie man solche Konflikte abbauen kann: Dazu muss man ein übergeordnetes Ziel formulieren, das eine wechselseitge Abhängigkeit zwischen den Mitgliedern entstehen lässt.

Rezeption und Wirkung

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Eine Vielzahl an Ehrungen und Auszeichnungen bestätigen, das Sherifs Werk bei seinen Zeitgenossen Anerkennung fand. Er ist einer der Begründer der Sozialpsychologie, ein heute breit beforschtes Gebiet, in dem seine Theorien immer noch Anwendung finden:

1971 ist aufgrund von Sherifs Erkenntnissen, wie man realistische Gruppenkonflikte abbauen kann, in den USA das Projekt der Jigsaw-Klassen (integrierte Klassen) von Elliot Aronson und seinen Studenten ins Leben gerufen worden. In diesen Klassen wurden gleichsam Weiße, Afroamerikaner und mexikanisch-amerikanische Schüler unterrichtet. Den Kindern wurden in Gruppen zu je sechs Personen Aufgaben gestellt, die nur gemeinsam zu bewältigen waren. Dieser Ansatz zeigte tatsächlich Erfolge und ist in einer Vielzahl von Klassen in allen Religionen des Landes und im Ausland erfolgreich wiederholt worden.

Henri Tajfel beschäftigte sich ebenfalls mit Gruppenkonflikten und konnte 1970/71 in seinem minimal-group-Experiment feststellen, dass schon die bloße gedankliche Zugehörigkeit zu einer Gruppe (daher "minimal-group") die Eigengruppe, im Gegensatz zur Fremdgruppe, favorisieren lässt.

Bibb Latanés entwickelte 1981 eine Theorie zum sozialen Einfluss, welche Sherifs Theorie des informativen sozialen Einflusses noch verfeinert, indem sie besagt, dass Konformität bei sozialem Einfluss von der Stärke, Unmittelbarkeit und Anzahl anderer Menschen in der Gruppe abhängt.


Literatur

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  • Aronson, E., Wilson, T., Akert, R. (2004)
    "Sozialpsychologie. 4. Auflage"
    München


Internetquellen

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