Soziologische Klassiker/ Popitz, Heinrich
Grundstruktur des Kapitels:
Biographie in Daten
BearbeitenHeinrich Popitz
geboren am 14. Mai 1925 in Berlin gestorben am 1. April 2002
Eltern: Der Vater von Heinrich Popitz war Johannes Popitz, preußischer Finanzminister und Widerstandskämpfer. Seine Mutter war geborene Cornalia Slot - aus der Ehe gingen drei Kinder hervor.
Ausbildung
- Studium der Philosophie, Geschichte und Ökonomie
- 1949 Dr. phil.
- 1957 Habilitation zum Prof. der Soziologie
beruflicher Werdegang
- 1959 wird Popitz ordentlicher Professor an der Universität Basel
- seit 1964 Ordinarius für Soziologie in Freiburg und Gründungsdirektor des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg
- 1971-72 Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research, New York
- 1992: Emeritierung
- 2000: 75. Geburtstag (Laudatio)
Historischer Kontext
BearbeitenHeinrich Popitz studierte sowohl in Heidelberg als auch in Göttingen und Oxford Philosophie, Geschichte und Ökonomie. Er promovierte bei Karl Jaspers und habilitierte bei Arnold Bergstraesser. Später arbeitete er an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund. Ab 1959 war er ordentlicher Professor für Soziologie in Basel und wurde 1964 der Gründungsdirektor des neu entstandenen Instituts für Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburt, wo er bis zu seinem Tode aktiv mitwirkte.
Popitz wuchs in einem Berliner Bürgerhaus auf und war der Sohn von Johannes Popitz. Dieser studierte Rechtswissenschaften und Staatswissenschaften und schlug 1914, als Referent im preußischen Innenministerium seine politische Laufbahn ein. 1919 gelang es Johannes Popitz während seiner Tätigkeit im Reichsfinanzministerium, als "geistiger Vater der Steuer" die Umsatzsteuer einzuführen. Ab 1922 war er Honorarprofessor für Steuerrecht und Finanzwissenschaft an der Universität von Berlin und von 1925 - 1929 bekleidete er das Amt des Staatssekretärs. Am 1. November 1932 wurde Johannes Popitz zum Reisminister ohne Geschäftsbereich und zum kommissarischen Leiter des preußischen Finanzministeriums und bereits am 21. April 1933 wurde er zum preußischen Minister ernannt.
Johannes Popitz trat während des aufkommenden Nationalsozialismus der NSDAP bei und bekam bereits 1937 das Goldene Parteiabzeichen verliehen. Er begann sich aber noch im selben Jahr gegen das Naziregime aufzulehnen, da er gegen die Verfolgung der Juden und deren Deportierung war. Popitz begann sich zusehends in Widerstandskreisen zu engagieren. Er arbeitete sogar an einem "Vorläufigen Staatsgesetz" für Carl Friedrich Goerdeler (ein Verschwörer gegen das Regime), welches im Falle eines gelungenen Putschs gegen Hitlers Regierung in Kraft treten sollte. Um diesen Machtwechsel so gewaltfrei wie möglich ebnen zu können, setzte sich Popitz im Sommer 1943 mit Heinrich Himmler in Verbindung, in der Hoffnung diesen von seinem Vorhaben überzeugen zu können. Im Falle eines Gelingens des Attentates vom 20. Juli 1944 wurde Popitz selbst von den Verschwörern um Claus Graf Schenk von Stauffenberg als Finanz- und Kulturminister vorgesehen. Nach dem Scheitern des Attentats wurde Popitz jedoch einen Tag später verhaftet und am 3. Oktober 1944 vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt. Am 2. Februar 1945 wurde Johannes Popitz schließlich in Berlin-Plötzensee gehängt. [1]
Theoriegeschichtlicher Kontext
BearbeitenHeinrich Popitz promovierte bei Karl Jaspers (* 23. Februar 1883 in Oldenburg; † 26. Februar 1969 in Basel) , der ein bedeutender deutscher Psychiater und Philosoph war. In seiner Philosophie wurde er vor allem durch Søren Kierkegaard, Baruch de Spinoza, Friedrich Nietzsche und Immanuel Kant beeinflusst. Karl Jaspers wird als einer der Vorreiter der modernen Existenzphilosophie angesehen.
Das anthropologische Menschenbild in Jaspers' Philosophie ist geprägt durch eine vierstufige Seinsweise als Verwirklichungsdimensionen des Menschen:
1. das biologische Dasein als rücksichtsloser, vitaler Daseinswille mit Macht-, Geltungs- und Genussinteressen – zugleich der Erfahrungsraum, in dem Phänomenologie und Positivismus ihre Grenzen finden.
2. das Bewusstsein überhaupt als Medium des objektiven Denkens im Sinne des kantischen Verstandes (das Ichsein), das den Bereich der Logik bestimmt.
3. der Geist als Teilhabe an ganzheitlichen und sinnstiftenden Ideen, der den Zusammenhang in der Zerstreutheit des Wissbaren und Erfahrbaren erzeugt.
4. die Existenz als das, was der Mensch sein kann, als nicht mehr empirisch fassbare Ebene des eigentlichen Selbstseins, als Möglichkeit des wahren Menschseins.
(Aufzählung zitiert aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Jaspers Stand Juni 2007)
Popitz habilitierte bei Arnold Bergstraesser (* 14. Juli 1896 in Darmstadt; † 24. Februar 1964 in Freiburg im Breisgau). Dieser war deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler und wird neben Wolfgang Abendroth, Theodor Eschenburg, Ernst Fraenkel und Erich Voegelin als einer der Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft nach dem 2. Weltkrieg genannt. In seinen Arbeiten ging es Bergstrasser vor allem darum, ein normatives Politikverständnis durchzusetzen. Im Vordergrund stand eine praxisorientierte, empirisch-synoptische Analyse des politischen Geschehens. Er war außerdem einer der ersten, durch die die Länder der Dritten Welt in Deutschland einen politischen Stellenwert erhielten.
Publikationen
Bearbeiten- Die Kreativität religiöser Ideen - zur Anthropologie der Sinnstiftung; in: Honegger, Claudia, Hradil, Stefan, Traxler, Franz (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Teil 2), Opladen, Leske und Budrich 1999
- Wege der Kreativität, Tübingen : Mohr Siebeck, 1997. (dt.)
- Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen: Mohr, 1995. - 142; hierzu: H. Oswald, Technologieanalyse als Beitrag zur Allgemeinen soziologischen Theorie. Essay über: Heinrich Popitz. Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft, in: Soziologische Revue 2 (1998)
- Spielen, Göttingen: Wallstein-Verl., 1994 (Göttinger Sudelblätter) - 32 S.
- Phänomene der Macht, 2., stark erw. Aufl.., Tübingen: Mohr, 1992. - 279 S.
- Epochen der Technikgeschichte, Tübingen: Mohr, 1989. - 73 S.
- Phänomene der Macht. Autorität, Herrschaft, Gewalt, Technik, Tübingen: Mohr, 1986. - 129 S.
- Politisches Denken und Gesellschaftsbild des Arbeiters, Starnberg: Verl. Polit. Texte, [1985 ?]. - 158 S.
- Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen: Mohr, 1980. - VI, 92 S.
- Der entfremdete Mensch: Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Unveränderter reprografischer Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980. - 155 S. - Zugl. gekürzte Fass. d. Diss. v. 1949.
- Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, 5., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1977 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster, Dortmund ; 17). - X, 288 S.
- Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, 3., unveraend. Aufl., Tübingen: Mohr, 1976 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster, Dortmund ; 16) . - XII, 223 S.
- Prozesse der Machtbildung, 3., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1976 (Recht und Staat ; 362/363). - 42 S.
- Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, 4., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1975 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart ; 331/332). - 51 S.
- Der entfremdete Mensch: Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973. - 155 S., teilw. zugl.: Diss., 1949, Sonderausgabe.
- Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, 4., unveränd. Aufl.. - Tübingen: Mohr, 1972 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster, Dortmund ; 17). - X, 288 S.
- Präsentation und Wirkung von Fernsehinhalten, Freiburg [Breisgau]: Inst. für Soziologie an der Univ. Freiburg, 1972 (Soziologische Studien / Inst. für Soziologie an der Univ. Freiburg ; 5). - 66 S.
- Prozesse der Machtbildung, 2., unveränd. Aufl., Tüebingen: Mohr, 1969 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart ; 362/363). - 42 S.
- Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen: Mohr, 1968 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart ; 350). - 25 S.
- Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, 2., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1968 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart ; 331/332). - 51 S.
- Der entfremdete Mensch. Zeitkritik u. Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Frankfurt a.M.: Europ.Verl.-Anst., 1967 (Kritische Studien zur Philosophie). - 152 S.
- Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen: Mohr, 1967 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart ; 331/332). - 51 S.
- Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, 3., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1967 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster, Dortmund ; 17). - X, 288 S.
- Die Ungleichheit der Chancen im Zugang zur höheren Schulbildung, Rotterdam, 1964. - S. 121-141, Sonderdr. aus: Arbeid en samenleving
- Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, 2., unveränd. Aufl., Tübingen: Mohr, 1964 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster, Dortmund ; 16). - XII, 221 S.
- Antidoron. Edgar Salin zum 70. Geburtstag, hg. zus. mit Erwin von Beckerath., Tübingen: Mohr, 1962. - 305 S.; (dt.)
- Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchung in der Hüttenindustrie, 2. unveränd. Aufl., Tuebingen: Mohr, 1961 (Soziale Forschung und Praxis / hrsg. von d. Sozialforschungsstelle an d. Univ. Münster / Dortmund ; 17). - X, 288 S.
- Progresso tecnico e mondo operaio, Roma: Ed. Paoline, 1960 (Problemi umani del lavoro ; 5). - (ital.) Einheitssachtitel: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters (ital.)
Nachrufe
Bearbeiten- Zeitschrift für Soziologie, Heft 5 Oktober 2002: Zum Tode des Soziologen Heinrich Popitz (von Hubert Treiber)
- Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, September 2002: Nachruf auf Heinrich Popitz (von Prof. Dr. Hermann Schwengel)
- Berliner Journal für Soziologie, Heft 3/2002: Nachruf auf Heinrich Popitz (von Martin Endreß)
- Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.04.02: Der befremdete Mensch. Wußte vom Nichtwissen: Zum Tode des Soziologen Heinrich Popitz (von Hubert Treiber)
- Sociologia Internationalis, Heft 1/2002: In memoriam Heinrich Popitz (von Prof. Dr. Wolfgang Eßbach)
- Zeitschrift für Rechtssoziologie, Heft 1/2002: Heinrich Popitz 1925 - 2002 (von Erhard Blankenburg)
Das Werk in Themen und Thesen
BearbeitenDie Industriesoziologie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Wechselwirkung zwischen Industrie und Gesellschaft. Ziel ist es die soziale Strukturen und Dynamiken von Industriebetrieben herauszufinden und die Auswirkungen der Industralisierung zu analysieren.
Außerdem beschäftigt sich die Industriesoziologie mit den Macht- und Autoritätsverhältnissen innerhalb von Industriebetrieben, Organisations- und Gruppenstrukturen im Industriebetrieb und deren Auswirkungen auf die Mitarbeiter und Verhältnis eines Betriebes zur Umwelt. Dazu genauer mit den möglichen Auswirkungen, die eine sozial verträgliche und ökologisch angepasste Industrialisierung auf Entwicklungsländer haben könnten und mit den Einstellungen, die die Menschen zu Industriebetrieben und Industriearbeit haben.
Die Historische Anthropologie entstand um 1990 als transdisziplinäre Forschungsrichtung, die die Grundphänomene des menschlichen Daseins in bezug auf die Vergänlichkeit durch die Zeit untersucht. Als Vorläufer können die französische Mentalitätsgeschichte, die angelsächsische Kulturanthropologie und die über einige Zeit in Deutschland verbreitete philosophische Anthropologie bezeichnet werden. Ziel dieser neuen Forschungsfrage war es, die Frage nach dem "Sein des Menschen" nicht mehr länger auf Grundlage des weißen europäischen Mannes der Moderne zu stellen. Für die Analysen versuchte man historiographische, kulturanthropologische und ethnologische Methoden miteinander zu verknüpfen um auf diese Weise neue Erkenntnisse gewinnen zu können.
Die Techniksoziologie ist der Versuch, die Auswirkungen von Technik auf die Gesellschaft abzuschätzen. Im Rahmen dieses Analyse versucht man oft interdisziplinäre Verbindungen z.B. zu den Ingenieurwissenschaften herzustellen.
Mittelpunkt der Forschung sind sowohl Großtechnologien wie z.B. Infrastruktur, aber im Rahmen der Haushaltstechnik täglich gebrauchten Geräte und Technologien in bezug auf ihre Benutzer. Vor allem um 1990 entstanden durch den Vormarsch des Computers und der computervermittelten Kommunikation neue Forschungsfelder. Ein Bereich ist z.B. die Sozionik in der sich Informatiker und Soziologen fragen, wie und ob sich die Gesellschaft überhaupt durch einen Computer simulieren lässt. Andere, großteils die feministische Techniksoziologie, beschäftigt sich z.B. mir der Unterpräsenz von Frauen in technischen Studiengängen und Berufen, aber auch mit der Grenzsetzung zwischen Körper und Maschine.
Heinrich Popitz kann als einer der wichtigsten deutschen Gelehrten der Nachkriegszeit und Gegenwart gesehen werden. Popitz' einzigartige Denkweise war gekennzeichnet durch zwei Dimensionen: einerseits der anthropologischen, seiner Suche nach den Grundstrukturen der sozialen Gesellschaft, auf der anderen Seite seiner künstlerischen wissenschaftlichen Arbeiten, die von vielen selbst als Kunstwerk bezeichnet werden. Popitz' Werke als Ganze betrachtet entwickeln in sich vier Felder der Sozialforschung, nämlich die Soziologie von Macht, Normen, Technologie und der sozialen Anthropologie.
Rezeption und Wirkung
BearbeitenWichtig war Popitz sowohl für die Industriesoziologie (u.a. gemeinsam mit Hans Paul Bahrdt). Von seiner Seite kamen aber auch wichtige Beiträge zur sozialen Rolle und zu sozialen Normen, sowie zur Soziologie der Macht und zur historischen Anthropologie, bzw. Techniksoziologie. Nach seinem Tod erschien im Jahr 2006 ein Sammelband, herausgegeben von Wolfgang Eßbach und Friedrich Pohlmann, die kurze Texte von Popitz u.a. zum Thema "Präventivwirkung des Nichtwissens" in der Edition Suhrkam unter dem Titel "Soziale Normen" (Ffm. 2006).