Soziologische Klassiker/ Migrationssoziologie/ Transnationalismus

Die Ethnologen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc gelten als die amerikanischen Begründerinnen des neuen Paradigmas. Ihr neu entwickelter Forschungsansatz basiert auf der Kritik der bis in die 80er Jahren die Migrationsforschung dominierenden Push- und Pull- Faktoren. Die Betrachtung der Migrantenbewegungen als eine von einem Herkunfts- zu einem Aufnahmeland wurde zu einseitig betrachtet und die bestehenden Assimilationsmodelle waren zu starr für die gegenwärtigen Migrationsprozesse.


Begriffserklärung

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Das Transmigrationsparadigma setzte sich zu Beginn der 1990er Jahr in der Migrationsforschung allmählich durch. Jahrelang wurde in der Migrationsforschung der Immigrant als Person gesehen, die sich dem schmerzhaften Prozess der Inkorporation in eine andere Gesellschaft und Kultur unterzieht. Jedoch zeigen Forschungsbelege, dass diese Sichtweise von Migration empirisch nicht mehr haltbar ist. Darum gewinnt ein neuer Migrantentyp vermehrt an Bedeutung, der „Transmigrant“. Dessen tägliches Leben ist von vielen konstanten grenzüberschreitenden Verbindungen abhängig und seine Identität gestaltet sich im Zusammenhang mit mehreren Nationalstaaten. Der transnationale Migrant ist weder Gast, noch ein temporärer oder permanenter Einwanderer, noch eine Person, die nur für ein paar Jahre im Ausland verweilt und als Remigrant wieder in das Herkunftsland zurückkehrt. Vielmehr lassen sie sich in der Aufnahmegesellschaft nieder und werden in wirtschaftliche und politische Institutionen sowie in das kulturelle Alltagsleben aufgenommen. Gleichzeitig pflegen sie Verbindungen zu ihrer Herkunftsgesellschaft und können lokale sowie nationale Ereignisse durch diese beeinflussen. Transnationale Migration ist der Prozess, in welchem gleichzeitig multilokale soziale Verbindungen und Netzwerke zwischen Ziel- und Herkunftsgesellschaft aufgebaut und gefestigt werden. Transmigranten bewegen sich permanent zwischen Herkunfts- und Residenzgesellschaft, wobei sie am gesellschaftlichen und politischen Leben beider teilnehmen, wodurch ein transnationales soziales Feld entsteht. Transnational wird als Überspannung graphischer, kultureller und politischer Grenzen verstanden. In den transnationalen sozialen Feldern formen sie ihre Identität, ihre Aufgaben und Entscheidungen. In diesem Zusammenhang entstand der Begriff des entterritorialisierten Nationalstaates [1], welcher von den Transmigranten und politischen Vertretern gerne verwendet wird. Dadurch wird auf das politische, kulturelle, ökonomische und soziale Netzwerk der transnationalen Migranten mit der Herkunftsgesellschaft verwiesen, trotz des Lebens in einem anderen Nationalstaat.

Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc [2] nennen drei Gründe, warum sich transnationale Migranten in Zentren des globalen Kapitalismus niederlassen und zur gleichen Zeit transnationale Leben führen:

  • „A global restructuring of capital based on changing forms of capital accumulation has lead to deteriorating social and economic conditions in both labor sending and labor receiving countries with no location a secure terrain of settlement.”
  • “Racism in both the United States and Europe contributes to the economic and political insecurity of the newcomers and their descendants.”
  • „The nation building projects of both home and host society build political loyalties among immigrants to each nation- state in which they maintain social ties.”

Petrus Han nennt zudem zwei Entwicklungen, die ein transnationalen Leben erleichtern

  • Durch die ökonomische Globalisierung kann sich die Suche nach Arbeit auf einen weltweiten Arbeitsmarkt richten.
  • Die rasante Entwicklung im Kommunikations- und Transportwesen führt zur Überwindbarkeit von Raum und Zeit, woraus eine Reduktion von Kosten und Unsicherheiten resultiert.

Familiennetzwerke

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Einen wichtigen Grundstock der vielfachen transnationalen Beziehungen bildet ein Verwandtschaftsnetzwerk. Zur Migration werden gewisse Ressourcen benötigt, die von der Familie bereitgestellt werden. Die zurückgelassene Familie erhofft sich durch die Migration des Angehörigen eine Sicherung und/oder Verbesserung ihrer sozialen Lage. Durch die grenzüberschreitende Erweiterung, Rekonfiguration und Aktivierung der großen Familiennetzwerke steigt der Nutzen von Arbeit und Ressourcen in verschiedenen Orten. Das individuelle Überleben während prekärer Wirtschaftslagen wird ermöglicht. Nicht jedes Mitglied des Familiennetzwerkes genießt den selben Nutzen von der transnationalen Wanderung. Durch die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen von Männern und Frauen - egal ob diese zuhause oder im Ausland verweilen- entstehen Spannungen. Viele fühlen sich mit der Verantwortung die Familie zu versorgen, überfordert. Andererseits glauben viele zurückgelassenen Familienmitglieder hintergangen zu werden und die für die Transmigration investierten Ressourcen nicht entsprechend rückerstattet zu bekommen. Einer Studie über Überweisungen von New York nach Haiti folgend unterscheidet sich der durchschnittliche Geldbetrag, der nach Hause geschickt wird, nach Geschlecht: Männer senden geringere Geldmengen als Frauen. Migrantinnen , die eigentlich in ihrem Heimatort für den Haushalt verantwortlich sind, senden die größten Beträge zurück.

Beispiele zur transnationalen Migration

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Die Nützlichkeit transnationaler Strategien zur Optimierung der Lebensverhältnisse zumindest für einen Großteil der Familie sollte anhand der „Carrington“ Familie, aus St. Vincent stammend, gezeigt werden: In St. Vincent konnten zwei Töchter keine Arbeit finden, darum immigrierten sie in die USA um Geld zu verdienen, von dem sie große Teile nach Hause schicken. Damit unterstützen sie die Finanzen der Familie und ermöglichen sogar den Bau eines Zementhauses. Zwei Brüder bekamen ebenfalls keinen Arbeitsplatz in St. Vincent, dafür in Trinidad. Die Ehefrau einer der Brüder schloss sich später einer Schwester ihres Ehemannes an und ging in New York einer Arbeit nach. Die Mutter blieb zuhause, versorgt die zwei kleinen Kinder eines ihrer Söhne und beaufsichtigt die Konstruktion des Familienhauses. Als einer der Brüder in Trinidad entlassen wurde, konnte er durch das geliehene Geld einer seiner Schwestern aus New York nach St. Vincent zurückkehren. Durch gegenseitige Unterstützung können die älteren Kinder ein transnationales Leben führen und ihre Familie versorgen.

Kontroverse Assimilationisten und Transnationalisten

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Das transnationale Migrationsparadigma wirft Fragen über die Adäquatheit bisheriger traditioneller Forschungs- und Erhebungsansätze auf, welche zur Kontroverse zwischen Assimilationisten und Transnationalisten führten. Die traditionelle Migrationsforschung der Assimilationisten geht von der Angleichung der Migranten an die Zielgesellschaft durch eine strengen Abfolge der Assimilationsstufen (nach Esser kognitiv, strukturell, sozial, und identifikativ) aus. Assimilation ist nicht nur notwendig, sondern alternativlos. Durch gute kognitive Leistungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für den Migranten, einen höheren sozialen Status zu erreichen. Folglich erhält der Migrant durch erworbene Sprach-, Norm- und Regelkompetenzen eher einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Ferner knüpft er wahrscheinlicher interethnische soziale Netzwerke im Aufnahmeland bei Beherrschung der Sprache des Landes. Esser folgend wäre ein das ein Idealtypus eines gelungenen Assimilationsprozesses.

Der grundlegende Konflikt zwischen Assimilationisten und Transnationalisten ist die Kopplung der Assimilationsstufen. Erstere gehen von einer strengen, zweitere von einer eher losen Abfolge der Phasen aus. Die Globalisierung und Modernisierung bewirkt für die Transnationalisten eine lose Verbindung zwischen kognitiver, struktureller, sozialer und identifikativer Assimilation. Durch die Entstehung transnationaler Räume werden eine transnationale Lebensführungen möglich, die weder eine Assimilation in jeder Stufe erfordert, noch müssen die Bedingungen für eine Teilnahme in jedem Bereich des sozialen Systems erfüllt werden. Nicht die Einbindung in das soziale Gefüge der Zielgesellschaft, sondern die Eingliederung in ein transnationales Netzwerk ist von Bedeutung.

Quellenverzeichnis

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  • BASCH, Linda/ GLICK SCHILLER, Nina/ SZANTON BLANC, Cristina (1997):
    "From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration. In: Ludger Pries (Hrsg.): Transnationale Migration"
    Baden- Baden. S. 121- 140.
  • BOMMES, Michael (2003):
    "Der Mythos des transnationalen Raumes. Oder: Worin besteht die Herausforderung des Transnationalismus für die Migrationsforschung?. In: Uwe Hunger/ Dietrich Thränhardt: Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat"
    Wiesbaden. S. 90- 116.
  • HAN, Petrus (2006):
    "Theorien zur internationalen Migration"
    Stuttgart: Lucius & Lucius.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Han 2006: 154
  2. Schiller, Basch, Blanc 1997: 123