Soziologische Klassiker/ Marcuse, Herbert

Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten Bearbeiten

Marcuse Herbert

  • geboren am 19. Juli 1898
  • gestorben am 29. Juli 1979


  • Herbert Marcuse wird als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten aus Pommern in Berlin geboren.
  • 1917-1919 Mitglied der SPD.
  • 1918 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg. Während der Revolution wird Marcuse in den Soldatenrat von Berlin-Reinickendorf gewählt.
  • 1918-1922 Marcuse studiert in Berlin, dann in Freiburg Germanistik und neue deutsche Literaturgeschichte im Hauptfach, Philosophie im Nebenfach. Er promoviert 1922 in Freiburg mit der Arbeit "Der deutsche Künstlerroman".
  • 1924 Marcuse heiratet Sophie Wertheim. Aus der Ehe geht ein Sohn hervor.
  • 1928-1932 Rückkehr nach Freiburg. Fortsetzung des Studiums der Philosophie bei Edmund Husserl (1858-1938) und Martin Heidegger. Der Versuch, sich bei Martin Heidegger zu habilitieren, scheitert auf Grund von Differenzen zu Heideggers anfänglich positiver Einstellung zum Nationalsozialismus. Seine Habilitationsschrift wird jedoch trotzdem veröffentlicht.
  • 1930 Neben Erich Fromm und Max Horkheimer gehört Marcuse zu den Mitgründern des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt/Main.
  • 1933 Durch Vermittlung von Leo Löwenthal (1900-1993) tritt Marcuse am 30. Januar dem von Max Horkheimer geleiteten Frankfurter Institut für Sozialforschung bei. Zu Horkheimers engsten Mitarbeitern zählten weiterhin Theodor W. Adorno, und Erich Fromm. Herbert Marcuse verlässt Deutschland und übernimmt die Leitung der Zweigstelle des Instituts in Genf. Anschließend geht er nach Paris.
  • 1934 Marcuse emigriert nach New York, wo er weiter am Institut für Sozialforschung, das neue Räume an der Columbia-University erhält, arbeitet.
  • 1940 Marcuse erhält die amerikanische Staatsbürgerschaft.
  • 1941 In New York erscheint "Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory", das 1962 erstmals unter dem Titel "Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie" in deutscher Sprache veröffentlicht wird.
  • 1942-1950 Marcuse arbeitet als Sektionschef im Office of Strategic Services in Washington, der US-Spionageabwehrbehörde, und wird dann Leiter der Europaabteilung. Ab 1950 Verschiedene Lehraufträge und Forschungsprojekte an amerikanischen Universitäten
  • 1950-1951 Vorlesungen an der Washington School of Psychiatry. Vorarbeiten zu seinem Band "Eros and Civilisation".
  • 1951 Marcuses erste Ehefrau Sophie Wertheim stirbt an Krebs.
  • 1952-1953 Marcuse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Russian Institute der Columbia-University in New York.
  • 1954-1955 Untersuchungen am Russian Research Center der Harvard-University in Cambridge/Massachusetts. Hieraus resultiert die Arbeit "Soviet Marxism".
  • 1954-1965 Professor für politische Wissenschaften an der Brandeis-University in Waltham/Massachusetts.
  • 1955 Veröffentlichung von "Eros and Civilisation". Der Band erscheint 1965 in deutscher Übersetzung mit dem Titel "Triebstruktur und Gesellschaft".
  • 1956 Heirat mit Inge Neumann, geb. Werner. Und Witwe von Franz L. Neumanns, dem Leiter der Europaabteilung.
  • 1958 Veröffentlichung der Schrift "Soviet Marxism", die 1964 in der Bundesrepublik unter dem Titel "Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus" erscheint.
  • 1964 Veröffentlichung seines Hauptwerks "One-Dimensional Man", das 1967 in Deutsch unter dem Titel "Der eindimensionale Mensch" erscheint. Hierin verdeutlicht Marcuse, dass im kapitalistischen System zwar dank immer neuer Technologien die anfallenden Krisen bewältigt werden könnten, jedoch um den Preis der Manipulation und des Konformismus. Dem könne man sich nur durch Verweigerung entziehen. Marcuse teilt nicht den Pessimismus der anderen Vertreter der Kritischen Theorie wie Horkheimer und Adorno, die die gesellschaftlichen Missstände zwar kritisieren, aber keine konkreten Lösungsansätze anbieten. "Der eindimensionale Mensch" und "Triebstruktur und Gesellschaft" zählen zu den wichtigsten Büchern der Kritischen Theorie und zu den Standardwerken der Studentenbewegung der 60er Jahre in den USA und der Bundesrepublik Deutschland.
  • 1965 Marcuse erhält einen Lehrstuhl an der Universität von Kalifornien in San Diego. Veröffentlichung seines häufig diskutierten Essays "Repressive Toleranz" in dem Sammelband "Kritik der reinen Toleranz".
  • 1967 Marcuse ist Hauptredner auf dem vom Berliner SDS veranstalteten Vietnam-Kongress, der maßgeblich von Rudi Dutschke mitorganisiert wurde. Marcuse hält das Eröffnungsreferat "Das Ende der Utopie" und einen weiteren Vortrag mit dem Titel "Das Problem der Gewalt in der Opposition". Er nimmt an zwei Diskussionsveranstaltungen teil. Eine zunächst in Aussicht gestellte Gastprofessur an der Freien Universität Berlin wird nicht realisiert.
  • 1972-1977 Veröffentlichung der Schriften "Konterrevolution und Revolte" (1972), "Studies in Critical Philosophy" (1973), "Zeitmessungen" (1975) und "Die Permanenz der Kunst - wider eine bestimmte marxistische Ästhetik" (1977).
  • 1973 Inge (Neumann) Marcuse stirbt an Krebs.
  • 1976 Heirat mit Erica Sherover.
  • 1979 Teilnahme an den Frankfurter Römerberggesprächen. Marcuse stellt unter dem Titel "Die Angst des Prometheus" fünfundzwanzig Thesen zu Technik und Gesellschaft vor.
  • 29. Juli: Herbert Marcuse stirbt während eines Deutschlandbesuchs in Starnberg.

Theoriegeschichtlicher Kontext Bearbeiten

Für Herbert Marcuse war Martin Heidegger der beste Lehrer und Denker den er je angetroffen hatte.


Werke Bearbeiten

  • Der deutsche Künstlerroman. Frühe Aufsätze / Herbert Marcuse.
  • Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit.
  • Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung.
  • Vernunft und Revolution : Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie.
  • Triebstruktur und Gesellschaft : ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud.
  • Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus.
  • Der eindimensionale Mensch : Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft.
  • Aufsätze und Vorlesungen. Versuch über die Befreiung.
  • Konterrevolution und Revolte. Zeit-Messungen. Die Permanenz der Kunst.


Das Werk in Themen und Thesen Bearbeiten

* Triebstruktur und Gesellschaft


Unter Herrschaft des Realitätsprinzips

Herbert Marcuse sieht die Ananke, die Lebensnot, unter deren Einfluss die Repression der Triebe sich entwickelt, als historisch-kontingentes Faktum und nicht als zeitlose Bedingung menschlicher Existenz schlechthin an. Die historisch vorherrschende Form des Realitätsprinzips ist das Leistungsprinzip, während das Lustprinzip zeitlich auf die Freizeit und räumlich auf die Genitalität begrenzt wird. Der Mensch kann sich und seine soziale Umgebung unter Bedingungen natürlichen Mangels reproduzieren, da ein Großteil der Zeit und des menschlichen Körpers für die Verrichtung entfremdeter Arbeit frei wird. In der gegenwärtigen Phase ist das Leistungsprinzip durch die Erfordernisse der produktiven Effizienz und der Konkurrenz geprägt. Durch die entfremdete Arbeit werden nun selbst Freiheitsgrade geschaffen. Vordergründig handelt es sich um die Freiheit von natürlichen Zwängen, welche damit mittelbar dem Lustprinzip dient und dies um den Preis einer unterdrückenden Kultur. Durch Marcuse wird nun der Begriff der zusätzlichen Unterdrückung (surplus repression) geprägt, welche für die Existenz von Kultur nicht notwendig ist, sondern der Organisation der Herrschaft des Menschen über den Menschen dient. Diese Herrschaft wird im Laufe der Geschichte immer wieder durch revolutionäre Prozesse überwunden, aber gleich wieder aufgerichtet, da die Subjekte durch die internalisierte Unterdrückung die Herrschaft mit der Existenz lebenssichernder Ordnung schlechthin identifizieren. Aus diesem Grund entsteht ein doppeltes Schuldgefühl und zwar durch den Verrat an der Herrschaft und an den eigenen Wünschen nach Freiheit. Produktion und Konsum sind eine Art Rechtfertigung für die Herrschaft und täuschen darüber hinweg, dass die Menschen die Fähigkeit hätten ihre Bedürfnisse selbst bestimmen zu können.


Jenseits des Realitätsprinzips

Aufgrund der Steigerung der Produktivität in der entfremdeten Arbeit schafft das Realitätsprinzip im Laufe der Geschichte die Bedingungen dafür, die herrschende Form des Realitätsprinzips abschaffen zu können.(„Je vollständiger die Entfremdung, desto größer das Potential der Freiheit.“) Marcuse sieht eine historische Phase kommen, in der die Menschen ihre Bedürfnisse selbst bestimmen können. Man könnte durch die Automation der Produktion die weiterhin lebensnotwendige entfremdete Arbeit auf ein zeitliches Minimum begrenzen. Der Eros würde dadurch in großem Ausmaß von seinen destruktiven Beschränkungen befreit. Eine Vorbedingung dafür wäre jedoch der Verzicht auf den erreichten Lebensstandard in der westlichen Welt. Marcuse geht davon aus, dass ein solcherart befreiter Eros nicht zum Untergang der Kultur führen würde, sondern im Gegenteil: zu dauerhaften Werkbeziehungen, durch die Befreiung des Eros. Es käme zu einer Selbst-Sublimierung der Sexualität, welche kultiviertere Beziehungen der Individuen untereinander ermöglichen würde. Marcuse geht von einer dem Eros innewohnenden libidinösen Moral aus, die nach der Abschaffung der zusätzlichen Unterdrückung und der damit verbundenen Herrschaftsformen zur Ausprägung einer befreiten Gesellschaft führen könnte. Dank der freigewordenen zeitlichen Ressourcen und der gesteigerten Möglichkeiten freier Wahl könnte Arbeit den Charakter des Spiels annehmen. Antizipiert sieht Marcuse diese Entwicklungsmöglichkeiten in der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit, in der Kunst. Diese Kunst entspringt der Phantasie, welche die einzige Form des Denkens ist, die sich von der Herrschaft des Realitätsprinzips freigehalten hat. In der Kunst sieht Marcuse eine Form menschlicher Arbeit verwirklicht, weitgehend ohne Triebunterdrückung vor sich gehend und ein hohes Maß an libidinöser Befriedigung bietend, und das ohne destruktiv zu sein. Im Kunstschaffen und in der Kunstrezeption kommt es zu einer wenigstens zeitweisen Befreiung des Eros. So kann die ästhetische Erfahrung als Modell einer von repressiven Strukturen befreiten Welterfahrung dienen. Laut Marcuse könnte das Lustprinzip in einer befreiten Gesellschaft als Realitätsprinzip eingesetzt werden, und zwar ohne die Kultur zu zerstören.


* Der eindimensionale Mensch

In dem Werk „Der eindimensionale Mensch“, erschienen 1964 in den USA, untersucht Marcuse die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Untertitel). Er konstatiert ein eindimensionales und positives bzw. positivistisches Denken, sowohl in der Wissenschaft als auch im öffentlichen Diskurs. Die Wissenschaft flüchte sich aus Furcht vor Werturteilen oder politischer Einmischung in quantitatives Denken und in Empirie. Anstatt die Ungleichheit im Kapitalismus und die nukleare Bedrohung anzugreifen oder zu kritisieren, würden diese Probleme nur verwaltet und somit immer neu reproduziert.

Hier setzt Marcuse die Negation entgegen: einerseits die Verneinung durch Kritik, andererseits die Weigerung, das Spiel mitzuspielen und die Suche nach dem qualitativ Anderen. Marcuse war bezüglich der Änderung der Verhältnisse sehr pessimistisch eingestellt und betonte die stabilisierende, "affirmative" Kraft des eindimensionalen Denkens.

Auf den letzten Seiten dieses Werks taucht das Schlagwort der Großen Verweigerung als Ausweg auf. Viele Gruppen der 68er-Bewegung und der alternativen Szenen bezogen sich auf dieses Motiv und auch auf andere Werke und propagierten weiters ein Aussteigen aus dem kapitalistischem System. Eine Utopie liegt darin, dass Marcuse eine befreite Gesellschaft vernunfttheoretisch und triebtheoretisch begründen wollte.

Dieser Ansatz wird 1967 in einem vor Studenten der freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag näher ausgeführt (Am Ende der Utopie). In Gesellschaften mit hochentwickelten Produktivkräften besteht demnach die Möglichkeit zu einer Umwälzung. Ziel ist es, Armut, Elend und entfremdete Arbeit abzuschaffen. Anders als Marx beschrieben hatte, kann das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit erscheinen. Für Marcuse ist die Negation der bestehenden Gesellschaft die Voraussetzung zur Transformation menschlicher Bedürfnisse. Es bedarf einer neuen Moral, einer Moral jenseits der judäo-christlichen Moral stehenden, die die vitalen Bedürfnisse nach Freude und nach dem Glück erfüllt und weiters die ästhetisch-erotischen Dimensionen umfasst. Er befürwortet ein Experiment der Konvergenz von Technik und Kunst sowie von Arbeit und Spiel. Interessant auch, dass Fourier die Differenz zwischen einer freien und einer unfreien Gesellschaft erstmals deutlich gemacht hat, indem er eine Gesellschaft in Aussicht stellte, in der selbst gesellschaftlich notwendige Arbeit im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen organisiert werden kann. Hier wird von Marcuse der Begriff vom möglichen Ende der Geschichte geprägt.


* Repressive Toleranz

In seinem Essay zur Repressiven Toleranz, erschienen im Jahr 1965 und den Studenten der Brandeis University zugeeignet, formuliert Marcuse Gedanken, die großen Einfluss auf die Studentenbewegung in den USA und in Europa ausübten. Darin bezeichnet Marcuse die zu Beginn der Neuzeit entwickelte Idee der Toleranz als parteiliches Ziel, als subversiven, befreienden Begriff und ebensolche Praxis. Es gäbe gegenwärtig keine Macht, Autorität oder Regierung, welche eine befreiende Toleranz umsetzen würde. Jedoch ging es darum die praktizierte Art von Toleranz, beispielsweise die Macht der zerstörerischen Gewalt in Vietnam, zu stärken.

Weiters formulierte Marcuse eine utopische Gesellschaftsvorstellung, in der das Individuum frei in Harmonie mit anderen lebt und öffentliche und private Wohlfahrt für alle gewährleistet ist. Man wollte eine Gesellschaft, ohne Versklavung der Menschen durch Institutionen. Die gegenwärtig herrschende Toleranz, auch in demokratischen Staaten, schenkte einer aggressiven Politik, Aufrüstung, dem Chauvinismus und der Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen Akzeptanz.

Für Marcuse existiert eine objektive Wahrheit, durch die Diskussion des Volkes in Gestalt von Individuen und Mitgliedern politischer und anderer Organisationen, die die Politik einer zukünftigen demokratischen Gesellschaft bestimmen. Diese Idee der Freiheit bezweckt für Marcuse eine uneingeschränkte Toleranz gegenüber rückschrittlichen Bewegungen. In Wirklichkeit wird die bereits etablierte Maschinerie der Diskriminierung von unparteiischer Toleranz in Schutz genommen. In seinem Essay legitimiert er dieses Programm mit der Feststellung, dass das Telos der Toleranz die Wahrheit sei.

Während Marcuses Gedanken vom Sozialistischen deutschen Studentenbund aufgriffen werden und damit das Streben nach einer besseren neuen Gesellschaftsordnung begründen, werfen Kritiker Marcuse vor, dass er den Gedanken des politischen Pluralismus zugunsten einer Parteilichkeit verwirft. Insbesondere kritisiert wird Marcuses Forderung, dass Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt werden solle (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten).


Internetquellen Bearbeiten