Soziologische Klassiker/ Luhmann, Niklas

Grundstruktur des Kapitels:

Biographie in Daten

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Luhmann Niklas

  • geboren am 8.12.1927 in Lüneburg
  • gestorben am 6.11.1998


Eltern:

  • Wilhelm Luhmann (….-….) Besitzer einer Brauerei
  • Dora Luhmann (…. Mädchenname Gurtner - 1977) Hausfrau


Kinder:

  • Veronika Luhmann (1961 - )
  • Jörg Luhmann (1963 - )
  • Clemens Luhmann (1963- )


Biografie


  • 1944 wird er als Luftwaffenhelfer eingesetzt
  • 1945 gerät er in amerikanische Gefangenschaft
  • 1946- 1949 studiert er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolviert eine Referendarausbildung
  • 1952- 1953 neben seiner intensiven Beschäftigung mit Literatur begann er schon bald mit seinen eigenen Ausführungen
  • 1954- 1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg
  • 1954- 1955 arbeitete er am Oberverwaltungsgericht. Er war Assistent des Präsidenten.
  • 1955- 1962 war er als Landesreferent im niedersächsischen Kulturministerium tätig.
  • 1960 heiratete er Ursula von Walter
  • 1960 – 1961 Bekanntschaft mit Talcott Parsons. Weiters Beurlaubung zum Studium der Verwaltungswissenschaften
  • 1962 war er als Verwaltungsjurist in der öffentlichen Verwaltung von Niedersachsen tätig.
  • 1962- 1965 verfolgte er seine Tätigkeit als Referent an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer
  • 1964 Veröffentlichung seines ersten Buches „Funktion und Folgen formaler Organisation“
  • 1965 studierte er ein Semester Soziologie in Münster
  • 1966 promovierte er in Münster zum Doktor der Sozialwissenschaften. Zur gleichen Zeit erfolgte seine Habilitation für Soziologie bei Dieter Claessens und Helmut Schelsky
  • 1968- 1993 lehrte er an der Universität in Bielefeld als Professor der Soziologie
  • 1977 stirbt seine Frau Ursula
  • 1984 erscheint sein Hauptwerk „Soziale Systeme“
  • 1997 erscheint nach 30 jähriger Forschung sein Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“
  • 1989 erhält er den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart
  • 6.11.1998 starb Luhmann in Oerlinghausen bei Bielefeld. Die Todesursache ist bis heute noch umstritten, vermutlich erlag er einer Pilzerkrankung.
  • 2000 wurde das „Städtische Gymnasisum Oerlinghausen“ in das „Niklas-Luhmann Gymnasium“ umbenannt.


Luhmann war Soziologe, Rechts- und Verwaltungswissenschaftler und Pädagoge. Luhmann ist einer der bekanntesten Vertreter der Systemtheorie. Diese Systemtheorie hat besonders in der Soziologie für heftige Debatten gesorgt.


Historischer Kontext

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Während seiner Gymnasiumszeit wurde Luhmann 1944 als Luftwaffenhelfer zum Kriegsdienst bestellt und kam kurz vor Kriegsende, 1945, noch in Amerikanische Gefangenschaft. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, den Gymansiumabschluss nachzuholen, in Freiburg Rechtswissenschaften zu studieren und selbst später noch seine berufliche Laufbahn zu unterbrechen, um noch einmal ein Studium zu beginnen.

Theoriegeschichtlicher Kontext

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Luhmann kam erstmals mit Talcott Parsons in nähere Berührung als er von seiner Tätigkeit als Landtagsrefernt im niedersächsischen Kultusministerium 1960/61 zum Studium der Verwaltungswissenschaften und der Soziologie an der Universität Harvard beurlaubt wurde. Dort beschäftigte er sich intensiv mit der dort von Talcott Parsons vertretenen soziologischen Systemtheorie, in die auch organisationssoziologische Impulse (Chester I. Barnard) eingegangen waren. Parsons sollte ihn nicht mehr loslassen, es kam zu „einer lebenslangen Hinwendung zur Systemtheorie“.


Monographien

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1963 Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz - Möglichkeiten gesetzlicher Regelung der Rücknehmbarkeit von Verwaltungsakten

1964 Funktion und Folgen formaler Organisation

1965 Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet

1965 Grundrechte als Institution - Ein Beitrag zur politischen Soziologie

1966 Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung - Eine verwaltungswissenschaftliche Untersuchung

1966 Theorie der Verwaltungswissenschaft - Bestandsaufnahme und Entwurf

1968 Vertrauen - Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität,

1968 Zweckbegriff und Systemrationalität - Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen,

1969 Legitimation durch Verfahren

1970 Soziologische Aufklärung 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme

1971 Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?

1971 Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung

1972 Rechtssoziologie

1973 Personal im öffentlichen Dienst - Eintritt und Karrieren

1974 Rechtssystem und Rechtsdogmatik

1975 Macht

1975 Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft

1977 Funktion der Religion

1978 Organisation und Entscheidung

1979 Reflexionsprobleme im Erziehungssystem

1980 Gesellschaftsstruktur und Semantik - Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft

1981 Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat

1981 Ausdifferenzierung des Rechts - Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie

1981 Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation

1982 The Differentation of Society

1982 Liebe als Passion - Zur Codierung von Intimität

1982 Zwischen Technologie und Selbstreferenz - Fragen an die Pädagogik

1984 Soziale Systeme - Grundriß einer allgemeinen Theorie

1986 Die soziologische Beobachtung des Rechts

1986 Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik

1986 Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?

1987 Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft

1988 Die Wirtschaft der Gesellschaft

1988 Erkenntnis als Konstruktion

1989 Reden und Schweigen

1990 Risiko und Gefahr

1990 Paradigm Lost - Über die ethische Reflexion der Moral

1990 Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven

1990 Die Wissenschaft der Gesellschaft

1991 Soziologie des Risikos

1992 Beobachtungen der Moderne

1992 Universität als Milieu

1993 Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?

1993 Das Recht der Gesellschaft

1994 Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems

1995 Die Realität der Massenmedien

1995 Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch

1995 Die Kunst der Gesellschaft

1996 Zwischen System und Umwelt - Fragen an die Pädagogik

1996 Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie

1997 Die Gesellschaft der Gesellschaft

2000 Organisation und Entscheidung

2000 Die Politik der Gesellschaft

2000 Die Religion der Gesellschaft

2002 Das Erziehungssystem der Gesellschaft

2002 Einführung in die Systemtheorie


Das Werk in Themen und Thesen

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Einführung und Vorbemerkungen zur Theorie Luhmanns

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Zunächst einige allgemeine Aspekte zur Theorie Luhmanns: Es ist zu beachten, dass die Theorie Luhmanns eine Entwicklung durchmachte und je nach dem, welche Literatur man von ihm heranzieht Unterschiede zu erkennen sind. Hier wird auf die einzelnen historischen Abschnitte des Theorieentwurfs und auf den chronologischen Entwicklungsverlauf nicht eingegangen. Vielmehr wird versucht, ein konsistentes Bild dieser Theorie darzustellen. Bezug wird dabei vor allem auf die neuesten Entwürfe, Veränderungen etc. der Systemtheorie Luhmanns genommen. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, soll angemerkt werden, dass im Rahmen der folgenden Ausführungen mit dem Begriff ‚Systemtheorie’ stets auf jene Luhmanns Bezug genommen wird.

Zunächst ist zu sagen, dass Niklas Luhmann versucht hat, eine universelle, umfassende und vor allem beschreibende Theorie zu erstellen, die alle gesellschaftlichen Phänomene (zumindest theoretisch) umfassen kann. Dieser Allgemeinheitsanspruch Luhmanns führt dazu, dass alle Betrachtungen der Systemtheorie sehr abstrakt erscheinen. Die zentrale Frage, die sich Luhmann stets stellte, war, wie gesellschaftliche Ordnung möglich ist und wie sich diese immer wieder reproduziert.

Niklas Luhmann studierte bei Talcott Parsons, dem Begründer der struktur-funktionalen Systemtheorie (Strukturfunktionalismus). Parsons fokussierte den Begriff der Struktur und ging stets davon aus, dass die Erfüllung von Funktionen die Systemstrukturen erhalten. Das zentrale Ziel ist somit die Strukturerhaltung. Luhmanns Frühwerk wird oftmals mit dem Ausdruck ‚funktional-strukturelle Theorie’ bezeichnet. Im Vergleich zu Parsons dreht er die Sache um und stellt die Funktion in den Mittelpunkt seiner Theorie. Erst durch die Übernahme/Ausbildung einer Funktion entsteht ein System, wobei die Funktion immer im Verhältnis zur Systemumwelt entsteht. Bei Luhmann ist somit die Frage der Entstehung von Systemen durch die Übernahme von Funktionen zentral (vgl. Korte, 2004, S. 75f.).

Grundannahmen

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Die Beschaffenheit der Welt

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Die zentrale Eigenschaft, die Niklas Luhmann der Welt zuschreibt, ist die Komplexität. Er nimmt an, dass die Welt - vor allem die soziale - sehr komplex ist und von den Menschen auch so erlebt wird. Die hohe Komplexität erklärt sich Luhmann vor allem dadurch, dass es prinzipiell unendlich viele Ereignisse in der Welt gibt und dass zwischen diesen Ereignissen eine Vielzahl von Beziehungen auftreten können (vgl. Münch, 2004, S. 182). Die hohe Komplexität der Welt drückt Luhmann oftmals mit dem Begriff der ‚Kontingenz’ aus. „Hohe Kontingenz von Ereignissen bedeutet, dass alles, was ist, auch anders sein könnte“ (Münch, 2004, S. 183).


Soziologische Anthropologie

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Die Anthropologie Arnold Gehlens geht davon aus, dass der Mensch nach Orientierung strebt und daher die Komplexität der Welt in irgendeiner Weise reduzieren muss. Da der Mensch ein weltoffenes Lebewesen ist und sich nur im geringen Maße durch instinkthaftes Verhalten an die Welt anpassen kann, benötigt er Institutionen (vgl. Münch, 2002, S. 182).

Luhmann entwickelt eine weitaus abstraktere Theorie für die Lösung des Problems der Komplexität. Laut Luhmann wird Komplexität mit Hilfe von Systemen reduziert. Sie treten an die Stelle der Institutionen der Gehl’schen Theorie. Reduktion von Komplexität wird von unterschiedlichen Systemen bewerkstelligt, z. B. von sozialen Systemen, psychischen Systemen (siehe unten) (vgl. Münch, 2002, S. 182). Da alle Systeme in ihrer grundlegenden Struktur gleich sind, setzt Luhmann voraus, dass die Welt „strukturelle Einheitlichkeit“ (Diekmann, 2004, S. 13) aufweist.

Es wird deutlich, dass Gehlen und auch Luhmann davon ausgehen, dass Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung besitzen.


Allgemeine Theorie sozialer Systeme

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Der Begriff des ‚Systems’ bedeutet ‚das Zusammengestellte’ (aus dem Altgriechischen: ‚systema’) (vgl. Diekmann, 2004, S. 12). Eine klassische Definition des Systembegriffes lautet wie folgt: „Als System soll eine Menge von Objekten einschließlich ihrer Eigenschaften bezeichnet werden, die als Elemente über Relationen verbunden sind“ (Hennen, 2002, S. 587). Doch wie verwendet nun Niklas Luhmann diesen Begriff? Luhmann kommt es vor allem auf den Begriff der ‚Differenz’ an (vgl. Diekmann, 2004, S. 35). Ein System konstituiert sich laut Luhmann durch eine Grenze, nämlich durch jene zwischen System und Umwelt (Leitdifferenz), sprich „ein System ‚ist’ die Differenz zwischen System und Umwelt“ (Luhmann, 2002, S. 66). Im Rahmen der Systemtheorie stellt die Umwelt eines Systems alles jenseits der Systemgrenze dar. Die Hauptaufgabe eines Systems und somit auch jene der Grenzziehung, ist wiederum die Reduktion von Komplexität. Dies bewerkstelligt ein System durch die ‚relative Offenheit’ (vgl. Autopoiesis weiter unten), d. h. ein System nimmt einen Input aus der Umwelt auf und transformiert ihn nach den eigenen Strukturen . Dadurch kann ein Output (z. B. Leistung) generiert werden (vgl. Luhmann, 2002, S. 47).

Ein System hat demnach einen Input-Output-Charakter. Dabei ist zu beachten, dass es prinzipiell viele verschiedene Transformationsfunktionen geben kann, nach denen ein System operiert (vgl. Luhmann, 2002, S. 50ff.). Durch die Ziehung einer Grenze reproduziert sich ein System und schafft sich quasi eine Identität. Identität wird sozusagen durch die Produktion der Grenze bzw. der Differenz erst produziert (vgl. Diekmann, 2004, S. 33f).

Die wichtigsten Systeme, die Niklas Luhmann unterscheidet, sind das organische, das psychische und das soziale System (vgl. nächster Punkt). Das organische System bildet z. B. den Körper eines Menschen und das psychische System könnte man besten mit dem Begriff ‚Bewusstsein’ übersetzten (Luhmann, 2002, S. 45).


Soziales System

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Da Luhmann in erster Linie ein Soziologe war, beschäftigte er sich hauptsächlich mit sozialen Systemen. Luhmann postuliert, dass erstens die soziale Welt keine zufällige Abfolge von Ereignissen und Interaktionen ist und dass zweitens Interaktionen nicht nur auf den Fähigkeiten, Motivationen, Eigenschaften etc. der Akteure beruhen und diese vorantreiben. Vielmehr gibt es laut Luhmann soziale Systeme, die „die Abfolge der Ereignisse, das Auftreten sozialer Handlungen und den Verlauf der sozialen Interaktionen“ (Münch, 2004, S. 180) bestimmen. Was sind nun diese sozialen Systeme genau? Wie bereits oben angedeutet erfüllen soziale Systeme folgende Funktion: „[Soziale] Systeme erfassen, verarbeiten und reduzieren Komplexität und machen somit die Welt anpassbar an das Bedürfnis des Menschen nach minimaler Ordnung, sodass der Mensch sich orientieren und planmäßig in der Welt handeln kann“ (Münch, 2004, S. 182f.). Ein soziales System ist daher immer weniger komplex als seine Umwelt. Komplexitätsreduktion gelingt vor allem dadurch, dass es weniger Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation in sozialen Systemen gibt. Auch soziale Systeme konstituieren sich durch eine Grenze (Differenz) zur Umwelt. Diese Systeme „sind von ihrer Umwelt in sachlicher [z. B. Inhalte die nicht sinnhaft erfasst oder mit dem bisherigen in Verbindung gebracht werden können], zeitlicher [z. B. ein Seminar] und sozialer [z. B. bestimme Teilnehmer in einer Diskussion] Hinsicht differenziert“ (ebd., S. 220). Die Entstehung sozialer Systeme wird unter dem Punkt ‚doppelte Kontingenz’ genauer beschrieben.

Luhmann unterscheidet drei Formen von sozialen Systemen: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme. Das Gesellschaftssystem ist das System höchster Ordnung, da es alle anderen Systeme beinhaltet (nur sich selbst nicht).


Doppelte Kontingenz

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Mit dem Begriff der ‚doppelten Kontingenz’ versucht Niklas Luhmann „das Entstehen von sozialen Systemen und somit sozialer Ordnung“ (Münch, 2004, S. 183) zu verdeutlichen. Wie bereits oben erwähnt, ist die Welt geprägt durch hohe Kontingenz. Doppelte Kontingenz meint nun, dass die an einer Kommunikation beteiligten psychischen Systeme nicht darüber gewiss sein können, wie die anderen Systeme handeln werden. Beispielsweise weiß ein Akteur A nicht welche Information von Akteur B mitgeteilt werden wird, somit weiß auch A noch nicht, wie er sich verhalten wird. Luhmann stellt sich nun die Frage, wie doppelte Kontingenz, die „die Koordination und gegenseitige Vorhersagbarkeit von Handlungen sehr schwierig und unwahrscheinlich“ (Münch, 2004, S. 154) macht, bewältigt werden kann. Da, wie bereits oben angesprochen, Menschen das Bedürfnis haben, Komplexität zu reduzieren, geht die Systemtheorie davon aus, dass „sich die Akteure an allem festhalten, was eine Verbindung und Fortsetzung von Handlungen ermöglicht“ (Münch, 2004, S. 185). Nun behauptet Luhmann, dass bereits die gegenseitige Erwartung von doppelter Kontingenz bereits ein erstes strukturierendes, ordnendes Prinzip in sich trägt, da dies die Akteure dazu zwingt, ein (soziales) System gegenseitiger, aufeinander bezogener Erwartungen zu konstruieren. Dadurch entsteht ein soziales System. „Und es gibt noch einen weiteren Schritt, der zur Einrichtung von Ordnung in einem solchen System führt: Jede Handlung, die einen Anschluss an eine andere Handlung erlaubt, wird wahrscheinlich festgehalten und fortgeführt“ [1]. Die beschriebene Möglichkeit zum Anschluss von Handlungen bzw. von Kommunikation (vgl. etwas weiter oben) begründet Luhmann wiederum mit dem fundamentalen Bedürfnis des Akteurs, Komplexität zu reduzieren. Durch die Interaktion der Akteure entsteht aufgrund der doppelten Kontingenz und ihrem Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion ein soziales System, „ein aus Kommunikation bestehendes System gegenseitig ausgerichteter Erwartungen und Handlungen, das eine eigene Qualität annimmt. Es entstammt dem Bewusstsein jedes Einzelnen und unterscheidet sich dennoch vom Bewusstsein der beiden“ (Münch, 2004, S. 186). Dadurch kann Luhmann soziale Systeme auch mehr oder minder unabhängig von psychischen Systemen (bzw. Akteuren) modellieren.


Interpenetration

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Wie noch erwähnt wird, ‚arbeiten’ Systeme mit dem Medium des Sinns. Der Sinn des psychischen Systems und des sozialen Systems sind jedoch nicht identisch. Dies kann man dadurch erklären, dass ein soziales System aus verschiedenen Quellen (aus mindestens zwei Akteuren) entsteht. Die „Beziehung zwischen den Quellen produziert das neue [soziale] System“ (Münch, 2004, S. 186). Die Verknüpfungen (siehe strukturelle Kopplung) und Durchdringung der Akteure untereinander und mit dem sozialen System nennt Luhmann Interpenetration (vgl. Abbildung 2). Diese Durchdringung geht wie folgt von statten: Für jedes psychische System wird ein anderes psychisches System als Umwelt und somit auch als Umweltkomplexität wahrgenommen. Die Komplexität des gegenüberstehenden psychischen Systems wird jedoch reduziert, indem sie durch das jeweilige System erfasst und verarbeitet wird. Diese gegenseitige Durchdringung ist somit auch Voraussetzung für die Entstehung eines sozialen Systems und auch Bedingung für die Bildung und Aufrechterhaltung der Autonomie und Identität des jeweiligen Systems. Ähnlich lässt sich auch der Prozess der Interpenetration zwischen dem psychischen und dem sozialen System beschreiben. Das soziale System, das sich aus den unterschiedlichen Quellen (psychischen Systeme) speist, wird durch jedes psychische System nach ihren jeweiligen Eigenschaften erfasst und in der Komplexität reduziert. Es werden beispielsweise nur jene Sinnelemente aus dem sozialen System erfasst, die auch relevant für das einzelne psychische System sind, selektiert werden vor allem jene Elemente, die die Anschlusskommunikation gewährleisten. Kann dies nicht geleistet werden, steht die Existenz des Systems auf dem Spiel, da ansonsten die Differenz bzw. die Systemgrenzen nicht laufend produziert und aufrecht erhalten werden können (vgl. Münch, 2004, S. 186ff.).


Sinn als Medium von Systemen

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Nun stellt sich die Frage welches Medium Systeme verwenden. Prinzipiell konstituieren sich Systeme (genauer: psychischen und sozialen Systemen) durch Sinn, wobei psychische Systeme mit Gedanken und soziale Systeme mit Kommunikation (siehe unten) operieren. Sinn definiert Luhmann „als eine Auswahl zwischen Alternativen“ (Münch, 2004, S. 192), wobei die nicht gewählten Alternativen für zukünftiges Handeln/Kommunizieren möglich bleiben (Stichwort: Kontingenz). Mit Hilfe von Sinn können Systeme Komplexität reduzieren, da sie durch Sinn Möglichkeiten selektieren (vgl. Münch, 2004, S. 187) und den Spielraum für sinnhafte Anschlusskommunikation einschränken (vgl. ebd., S. 192). Dies ist laut Luhmann notwendig, „weil allein aus Gründen begrenzter Zeit und Ressourcen nicht alle denkbaren Bezüge beachtet und realisiert werden können“ (Vogd, 2007, S. 302). Der Sinnbegriff geht Hand in Hand mit dem Begriff des ‚Verstehens’. Systemen wird das Verstehen durch ihre Fähigkeit zur selbstreferenziellen Beobachtung ermöglicht.


Autopoiesis

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In der neuesten Theorieversion führte Luhmann das Konzept der Autopoiesis (Selbstreferenz) ein. Unter dem Begriff der Selbstreferenz wird jener Umstand verstanden, dass Systeme durch die Verarbeitung der Umweltkomplexität ihre eigene Autonomie erzeugen und bewahren. Autopoietische Systeme sind zwar operativ geschlossene Systeme, da sie nur aufgrund ihrer internen Struktur bzw. ihren internen Codes verfahren. Jedoch sind sie nach Außen hin offen, da sie die Umwelt ‚beobachten’ und deren Komplexität reduzieren. Damit können sich Systeme durch den Bezug auf die Umwelt stets reproduzieren. Luhmann spricht hier von „Offenheit durch Geschlossenheit“: Der intern geschlossene Charakter eines Systems und die Fähigkeit unter den systeminternen Bedingungen auf die Umwelt zuzugreifen, erlaubt eine maximale Offenheit gegenüber der Komplexität der Umwelt (vgl. Münch, 2004, S. 190; Luhmann, 2002, S. 100ff.).

Die Selbstreferenz autopoitischer Systeme kann auf drei unterschiedliche Ebenen bezogen werden:

  • Code
  • Struktur bzw. Programm
  • Prozesse

Der Code ist ein binäres Differenzierungsschema, das z. B. zwischen wahr und unwahr unterscheidet, der für die Schließung des Systems sorgt. Die Strukturen bzw. Programme sind Bedingungen, nach denen die Entscheidung für die eine oder die andere Seite der Differenzierung getroffen wird. Es sind dies generalisierte Erwartungen, Werte, Normen, Rollen usw. (Münch, 2004, S. 208ff; Kneer & Nassehi, 1997, S. 133). Im Rahmen der binären Codes bilden die jeweiligen Systeme Formen aus, wobei die Codes für die Geschlossenheit der jeweiligen Systeme sorgen, die dadurch erst die spezifische Form der Offenheit erlauben. Autopoiesis). Diese Offenheit der Systeme wird durch die Programme gewährleistet; Luhmann (1986, S. 83 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 133) schreibt hierzu:

"In Bezug auf seinen Code operiert das System als geschlossenes System, indem jede Wertung wie wahr/unwahr immer nur auf den entgegengesetzten Wert desselben Codes und nie auf andere, externe Werte verweist. Zugleich aber ermöglicht die Programmierung des Systems, externe Gegebenheiten in Betracht zu ziehen, dass heißt die Bedingungen zu fixieren, unter denen der eine oder andere Wert gesetzt wird."

So gilt für das Teilsystem der Wissenschaft, dass die Theorien die Programme sind, die über Wahr oder unwahr unterscheiden. Der Prozess entspricht der fortschreitenden Interaktion (Münch, 2004, S. 208ff; Kneer & Nassehi, 1997, S. 133).


Kommunikation

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„Was immer in der Gesellschaft geschieht, ist Kommunikation“ [2]. Damit will Luhmann deutlich machen, dass es die Kommunikation ist, die Gesellschaft konstituiert und nicht das Handeln der einzelnen Individuen (vgl. ebd., S. 79). Soziale Systeme bzw. deren Grenzen werden durch Kommunikation erzeugt und aufrechterhalten, ohne Kommunikation keine Gesellschaft. Kommunikation wird durch Sinn vorangetrieben, indem immer wieder an den Sinn des sozialen Systems angeschlossen wird. In der Systemtheorie werden drei Komponenten der Kommunikation unterschieden. Jede Kommunikation enthält Information, darunter versteht man einen bestimmten Sachgehalt einer Mitteilung. Die Mitteilung ist sozusagen die Form der Kommunikation (mündlich, schriftlich, Mimik etc.). Der dritte Aspekt der Kommunikation bildet das Verstehen von Sinn. Damit man von Kommunikation sprechen kann, muss es jemanden (z. B. ein psychisches System) geben, der die Mitteilung aufnimmt und die Information verarbeitet (Entschlüsselung). Der Erfolg (d. h. dass alle Beteiligten das gleiche unter der Information verstehen) ist kein notwendiges Kriterium für Kommunikation. Information kann auch immer ‚falsch’ verstanden werden. Widerspricht sich Kommunikation bzw. die Information, wird zwar mit großer Wahrscheinlichkeit die Kommunikation aufrecht erhalten um diesen Widerspruch (Akzeptanz/Nichtakzeptanz) zu beseitigen, jedoch können dadurch Konflikte entstehen (vgl. Münch, 2004, S. 192ff.).


Operation

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Unter Operation versteht Niklas Luhmann (2002, S. 101) den Akt der Aufrechterhaltung bzw. der Reproduktion eines Systems. Soziale Systeme reproduzieren sich autopoietisch durch Kommunikation, sie kommunizieren damit Kommunikation aufrechterhalten werden kann. Ähnlich verhält es sich auch mit psychischen Systemen: Gedanken sind die Operationen des psychischen Systems, gibt es keine Gedanken (z. B. durch den Tod des organischen Systems), kann das psychische System nicht aufrechterhalten werden. Ein soziales System existiert somit nur, wenn es operiert. Man könnte daher sagen, ein System ist nicht mehr als eine Kette von Operationen.


Beobachtung

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Grundsätzlich ist das Konzept der Beobachtung oder des Beobachters in der Systemtheorie zentral. Beobachtung ermöglicht Unterscheidung (Differenz), das Beobachten an sich ist somit eine Operation (vgl. oben). Durch Beobachtung kann das System von der Umwelt unterschieden und die Umwelt ‚bezeichnet’ bzw. unterschieden werden. Bezeichnungen können ‚gespeichert’ werden und bilden dadurch Anschlussfähigkeit. Der Beobachter ist somit eine Kette von Beobachtungen und bildet ein System bzw. ein Teil eines Systems, das speziell zur Beobachtung abgestellt wird. Hier muss auch zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung unterschieden werden. Ein System kann sich selbst beobachten, aber auch andere Systeme in der Umwelt. Beobachtung ist jedoch immer von der jeweiligen systeminternen Struktur abhängig (Beobachtung ist selbstreferenziell), d. h. es gibt nichts, „was unabhängig vom Beobachter gesagt werden kann“ (Luhmann, 2002, S. 140). Dadurch kann es zu ‚blinden Flecken’ kommen, d. h. ein System kann aufgrund ihrer Strukturen nur jenes wahrnehmen, was diese internen Strukturen dem System erlauben zu sehen. Ein blinder Fleck kann jedoch durch ‚Beobachtung zweiter Ordnung’ ausgeschaltet werden. D. h. wenn ein Beobachter einen Beobachter beobachtet, kann dieser über den blinden Fleck des ersten Beobachters reflektieren (vgl. Luhmann, 2002, S. 141ff.). Hier wird die konstruktivistische Herangehensweise Luhmanns deutlich.

Wie schon erläutert, haben Systeme die Fähigkeit zu beobachten. Hier entsteht jedoch ein Paradox, denn wenn ein System etwas beobachten will, muss es sich von dem, was es beobachtet, unterscheiden. Diese Unterscheidung ist jedoch wiederum nur durch Beobachtung möglich (vgl. Luhmann, 2002, S. 73). Prinzipiell kann dieses Henne-Ei-Problem nicht gelöst werden, fest steht jedoch, dass Selbstreferenz bzw. Beobachtung der Startpunkt der Reproduktion und Anschussfähigkeit (bei sozialen Systemen durch Kommunikation) des Systems ist.

Es stellt sich die Frage, wie soziale Systeme, die nur aus Kommunikation bestehen, in der Lage sind zu beobachten. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte diese Frage erläutert werden! Außerdem wird dabei auch deutlich, wie es Luhmann möglich ist soziale Systeme ohne psychische Systeme zu modellieren. Beobachtungen brauchen laut Luhmann keine Instanz (z. B. eine Akteur). In sozialen Systemen sind Kommunikation den Beobachtungen gleich zu setzen. Ein soziales System ist somit eine Verkettung von Kommunikation und dadurch auch von Beobachtungen, denn auch eine Kommunikation kann unterscheiden und bezeichnen. So verhält es sich auch mit psychischen Systemen: Das Bewusstsein ist eine Verkettung von Gedanken und Wahrnehmungen ohne ein Subjekt, das diese Operationen durchführt. Hierzu ein Beispiel:

"Ein Lehrer beobachtet die Schüler (…). Die Schüler beobachten den Lehrer (…). Der Lehrer beobachtet auch, dass die Schüler ihn beobachten. Aber jetzt kommt hinzu, dass die Interaktion die Schüler beobachtet, zuweilen auch sogar den Lehrer (…): Der Lehrer wird zum Thema der Diskussion im Unterricht. Das soziale System beobachtet psychische Systeme; die psychischen Systeme beobachten psychische Systeme; die psychischen Systeme könne soziale Systeme beobachten." [3]"


Strukturelle Kopplung

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Strukturelle Kopplung meint die Beziehung zwischen Systemen. Sie ist zwischen Funktionssystemen (siehe weiter unten) aber auch zwischen sozialen und psychischen Systemen vorhanden. Psychische Systeme operieren in Gedanken, soziale Systeme in Kommunikation. Die Kopplung geschieht in diesem Fall durch die Sprache. „Sprache hat (…) eine Doppelseitigkeit. Sie ist sowohl psychisch als auch kommunikativ verwendbar und verhindert nicht, dass die beiden Operationsweisen (…) separat laufen und separat bleiben“ (Luhmann, 2002, S. 275). Durch die strukturelle Kopplung kann zwar ein System nicht in das andere ‚eingreifen’, da alle Systeme nach eigenen Regeln operieren, dennoch kann beispielsweise ein psychisches System Irritation in einem sozialen System auslösen, d. h. das soziale System wird die Umweltreize zwar wahrnehmen, diese jedoch nach den eigenen Regeln verarbeiten.


Gesellschaftstheorie

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Im vorhergehenden Kapitel wurden die begrifflichen Grundlagen der Systemtheorie von Luhmann eingeführt und erläutert. Nun soll also die Anwendung dieser grundlegenden Konzepte auf den Gegenstand der Soziologie, auf die sozialen Systeme, erfolgen. In einem ersten Schritt werden die drei Ebenen der Systembildung dargestellt. Darauf folgen die Beschreibung der systemischen Differenzierung und ihre Stellung in der Evolution der Gesellschaft. Abschließend in diesem Kapitel wird die Theorie des Gesellschaftssystems und im Besonderen die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft beleuchtet.


Drei Ebenen der Systembildung

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Luhmann unterscheidet im Bereich der sozialen Systeme drei besondere Typen:

  • Interaktionssysteme
  • Organisationssysteme
  • Gesellschaftssystem


Interaktionssysteme

Interaktionssysteme entstehen durch die Handlung von Anwesenden. Anwesende in diesem Sinne sind Personen die sich gegenseitig wahrnehmen. Interaktionssysteme sind situativ. Bspw. ist ein an der Universität stattfindendes Seminar als ein Interaktionssystem zu sehen, zu dem alle von den Teilnehmer getätigten Handlungen gehören: Wortmeldungen in Diskussionen, Referate, Gespräche etc. Zur Umwelt dieses Interaktionssystems gehören alle Handlungen, die von Personen außerhalb dieses Seminarraumes durchgeführt werden. Sobald die Seminarteilnehmer auseinander gehen, löst sich dieses Interaktionssystem auch wieder auf (zumindest bis zum nächsten Seminartermin) (vgl. Münch, 2004, S. 205; Kneer & Nassehi, 1997, S. 42).


Organisationssysteme

Wenn die Mitgliedschaft in einem sozialen System an eine bestimmte Bedingung geknüpft ist, dann wird dieses soziale System als organisiert bezeichnet. Organisationen gelingt es mit Hilfe von Mitgliedschaftsregeln, „hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren“ (Luhmann, 1975, S. 2 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 43). Als wichtige Funktion von Organisationen ist die Berechenbarkeit – sowohl für Mitglieder als auch Nicht-Mitglieder – zu sehen. Ein Beispiel für ein Organisationssystem stellt die Universität dar: Es kann eine Unterscheidung in Mitgliedschaftsgruppen getroffen werden (Wissenschaftliche und Administrative Mitarbeiter, Studenten), der Eintritt als auch der Austritt aus der Organisation ist an bestimmten Bedingungen geknüpft und damit auch formell geregelt (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 42f).


Gesellschaftssysteme

Luhmann versteht unter Gesellschaft das umfassendste Sozialsystem; es gehören alle Interaktions- und Organisationssysteme der Gesellschaft an, wobei die Gesellschaft nicht in den Interaktions- und Organisationssystemen aufgeht. So ist die Gesellschaft kein Interaktionssystem, da in ihr die Handlungen von Abwesenden auch inkludiert sind; und sie hebt sich vom Organisationssystem ab, indem man der Gesellschaft angehört und keine Ein- und Austrittsbedingungen wie in Organisationen gegeben sind. Gesellschaft geht über die Summe aller Interaktions- und Organisationssysteme hinaus, da in ihr Handlungen auftreten, die nicht schon von den anderen Systemen hervorgebracht werden. So schreibt Luhmann, dass die Gesellschaft „ein System höherer Ordnung, ein System anderen Typs“ (Luhmann, 1975, S. 11 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 43) bildet. Somit ist die Gesellschaft einerseits als besonderer Systemtyp als auch als das umfassendste System zu betrachten (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 43).


Systemische Differenzierung und gesellschaftliche Evolution

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Der Grundbegriff der ‚Systemdifferenzierung’ „bezeichnet die Fähigkeit von sozialen Systemen, Subsysteme zu bilden“ (Kneer & Nassehi, 1997, S. 112), diese ist „nichts weiter als Wiederholung der Systembildung in Systemen“ (Luhmann, 1975, S. 37 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 112). „Man kann die Differenzierung von Systemen als eine Wiederholung der Differenz von System und Umwelt innerhalb von Systemen beschreiben“ (Luhmann, 2005, S. 238). Durch die Teilung eines Systems in Teilsysteme werden interne System-/Umweltdifferenzen geschaffen, so dass die anderen Teilsysteme eines Gesamtsystems als Umwelt des jeweiligen Teilsystems vorkommen (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 112).

Die systemtheoretische Gesellschaftstheorie muss sich mit der Frage befassen, wie eine Gesellschaft mit Komplexität umgeht sowie mit seiner internen Teilung in Sub- und Teilsysteme (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 112f). Die Möglichkeiten der Erfassung und Verarbeitung der Umweltkomplexität sind vielfältig (vgl. Münch, 2004, S. 203). Beobachtbar ist, dass eine traditionale Gesellschaft eine deutlich geringere Komplexität aufweist als eine moderne Gesellschaft, ob jedoch auch eine geringere Differenzierung vorliegt, ist nicht so leicht zu bestimmen. Für Luhmann ist somit die entscheidende gesellschaftstheoretische Frage, in welcher Form die Differenzierung der Gesellschaft erfolgt. Zwischen Komplexität und Systemdifferenzierung besteht kein unilinearer Zusammenhang, sondern dass „die Komplexität, die Gesellschaftssystem erreichen kann, abhängt von der Form [Hervorhebung im Original] seiner Differenzierung“ (Luhmann, 1980, S. 22 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 113)

Gesellschaftssysteme lassen sich anhand ihrer primären Differenzierung charakterisieren. Es gibt auch sekundäre Differenzierungsformen, doch ist für eine bestimmte Gesellschaft auch ein dominanter bzw. primärer Typ der Differenzierung festzustellen. Die drei zu besprechenden Formen der primären Differenzierung sind (vgl. Luhmann, 2005, S. 248ff; Münch, 2004, S. 203ff; Kneer & Nassehi, 1997, 115ff):

  • Segmentäre Differenzierung
  • Stratifikatorische (hierarchische) Differenzierung
  • Funktionale Differenzierung


Segmentäre Differenzierung

Die segmentäre Differenzierung ist als das einfachste Differenzierungsprinzip anzusehen. Diese Form der Differenzierung wird einfachen, bspw. archaischen, Gesellschaftssystemen zugeordnet. Das Prinzip der segmentären Differenzierung ist eine Aufteilung in gleiche Teile, wie Familien, Stämme, Siedlungen usw. Die innergesellschaftliche Umwelt stellt sich für jedes Teilsystem als eine Ansammlung von gleichen oder ähnlichen Systemen dar (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 122f). Die segmentäre Differenzierung „ist eine Wiederholung von Gruppenbildungen, die darauf ausgerichtet sind, dieselben Funktionen zu erfüllen: Familien innerhalb einer einfachen Stammesgesellschaft sind in ihrer Struktur ähnlich und erfüllen dieselbe Funktion der Reproduktion der ökonomischen, gemeinschaftlichen, politischen und kulturellen Lebensweise des Stammes“ (Münch, 2004, S. 203).

In primitiven Gesellschaften existieren Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssysteme nebeneinander, innerhalb jeder Begegnung. Das Gesamtsystem ist bei dieser Differenzierungsform in seiner Komplexität auf ein niedriges Niveau beschränkt. Diese Einschränkung fußt auf dem Rahmen der segmentären Differenzierung: Die Teilsysteme haben ihre Grenzen in Lokalität und konkreten Handlungssituationen. Ein wesentliches Kriterium für die Zugehörigkeit zum (Teil-)System ist die Präsenz von Personen. Da Handlungen und ihre Möglichkeiten auf Anwesenheit aufbauen, ergibt sich, dass sich nur ein geringes Ausmaß von Arbeitsteilung herausbilden kann (vgl. Münch, 2004, S. 205; Kneer & Nassehi, 1997, S. 122f).


Stratifikatorische (hierarchische) Differenzierung

Während die segmentäre Differenzierung gleichartige Teile voneinander trennt, so wird ab der Stufe der stratifikatorische Differenzierung eine Unterteilung in ungleiche Teilsysteme vorgenommen. Dies ist als ein Schritt zur Überwindung der strukturellen Limitationen des Systems im Rahmen der segmentären Differenzierung. zu sehen. Der Übergang in der Differenzierungsform wird zwar empirisch nur schwer nachvollziehen zu sein, theoretisch kann allerdings vermutet werden, dass segmentär differenzierte Gesellschaften durch das Erleben ihrer eingeschränkten Möglichkeiten zu neuen Formen gelangen (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 124f).

In der hierarchischen Differenzierung ist das Prinzip der Einteilung eine Differenzierung in ungleiche Schichten. Die Gesellschaft ist nicht mehr in gleiche Teilsysteme gegliedert, sondern in verschiedene Teilsysteme, die jetzt in einer hierarchischen Beziehung und nicht mehr auf der gleichen Ebene beliebig zu einander stehen. Die Leitdifferenz der stratifizierten Gesellschaften ist oben/unten. Diese Gesellschaftsform differenziert sich vorwiegend in der Sozialdimension und ordnet mit ihrer Differenzierung die Menschen unterschiedlichen Ständen zu. Wichtig in Bezug auf die Leitdifferenz von oben und unten ist nicht, was gesagt wird, sondern von wem etwas gesagt wird. Der Zusammenhalt der Gesellschaft geschieht „durch eine gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik der Hierarchie und er direkten Reziprozität“ (Luhmann, 1975, S. 29 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 127). Dies geschieht durch eine primär religiös ausgerichtete Auslegung des Seins in der Welt, wo jeder durch göttlichen Ratschluss an seinen Platz gesetzt wird. In dieser vertikalen Differenzierung der Gesellschaft ist der Zuwachs an Komplexität gegenüber der segmentären Differenzierung sehr groß, nichtsdestotrotz bleibt die Positionsbestimmung innerhalb der Gesellschaft noch recht transparent. Dies vor allem auf Grund der eindeutigen Leitdifferenz von oben/unten, die unabhängig von der Beobachtungsperspektive gleich bleibt (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 126f).


Funktionale Differenzierung

Die funktionale Differenzierung beschreibt die primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft. Diese Form der Differenzierung setzte sich spätestens mit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch, nachdem die Entwicklung zur vermehrten Ausprägung der funktionalen Differenzierung bereits zu Ende des 16. Jahrhunderts sich abgezeichnet hat. Die Differenzierung erfolgt hin zu verschiedenen Teilsystemen, die eine je unterschiedliche – nicht füreinander substituierbare – funktionelle Bedeutung haben und auf der selben Ebene ohne hierarchische Beziehung zueinander stehen. Die Gesellschaft differenziert sich in Teilsysteme, die nicht mehr durch eine gemeinsame Grundsymbolik integriert werden können, sondern die einzelnen Teilsysteme operieren aus ihrer je eigenen Perspektive – aus ihren je eigenen Leitdifferenzen – heraus (vgl. Münch, 2004, S. 204; Kneer & Nassehi, 1997, S. 131f).

Zu diesen beobachtungsleitenden Unterschieden schreibt Luhmann (1989, S. 430 zitiert in: Kneer & Nassehi, 1997, S. 132): „Man sieht jetzt deutlich, dass die Funktionssysteme sich nicht nur über eigene Kriterien des Richtigen, also nicht nur über Gesamtformeln ihrer Programme (Friede bzw. Gemeinwohl, Wohlstand, Bildung, Gerechtigkeit etc.) ausdifferenzieren, sondern dass dies primär über binäre Codes [Hervorhebung durch Kneer & Nassehi] geschieht“ (Luhmann, 2005, S. 264). Der Begriff des binären Codes kennt nur zwei Werte und schließt dritte Möglichkeiten aus. Die Zweiwertigkeit der binären Codes ist für die Beobachtung der Teilsysteme das leitende Schema. So unterschiedet das Teilsystem des Rechts nach recht/unrecht, die Wissenschaft nach wahr und unwahr usw. Wichtig ist zu bedenken, dass die in

"den binären Codierungen enthaltenen Unterscheidungen nicht irgendwelchen kontingenten Beobachtungsgeneratoren sind, die in der Wirtschaft, in der Politik, im Recht usw. neben anderen vorkommen. Sie kommen nicht in den Systemen vor, sondern sie sind [Hervorhebungen durch Kneer & Nassehi] es letztendlich, die die jeweiligen Teilsysteme als soziale Systeme konstituieren." [4]

Durch die zweiwertige Unterscheidung und den Ausschluss von dritten Möglichkeiten, die diesen Unterscheidungen nicht unterliegen, ergibt sich in der modernen Gesellschaft, dass bspw. Macht nicht durch wissenschaftliche Wahrheit gesichert werden kann. Zwar dient wissenschaftliche Erkenntnis oft zur Begründung politischer Entscheidungen, dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Beziehungen zwischen den Teilsystemen so geartet sind, dass sie die Grenzen zwischen den Systemen nicht sprengen (vgl. Kneer & Nassehi, 1997, S. 132f).

Wie oben dargelegt (vgl. 4.6. Autopoiesis), wird die Schließung der Teilsysteme durch den Code und die spezifische Form der Offenheit durch die Programme gewährleistet. Dabei sind Programmierungen die Möglichkeit für die operativ geschlossenen Teilsysteme, ihre jeweilige Umwelt in die eigenen Operationen einzubauen, ohne ihre jeweils spezifische Codierung zu verlassen. Würden bspw. in einem totalitär geführten Staat nur bestimmte Ergebnisse als erwünscht betrachtet und andere Ergebnisse durch Repressalien unterdrückt werden, so kann die Wissenschaft trotzdem nicht aus ihrem Differenzierungsschema wahr/unwahr ausbrechen. Die politischen Vorgaben müssten in Theorien ausgedrückt werden, die Bedingungen enthalten, warum die Partei Recht hat. Systeme können nur innerhalb ihrer eigenen Grenzen operieren und sie können ihren Umweltkontakt nur systemrelativ – mit eigenen Systemoperatoren – herstellen. Dies entspricht einer unaufhebbaren operativen Differenz zwischen den funktionalen Teilsystemen. Die unterschiedlichen Teilsysteme, die jeweils durch unterschiedliche binäre Codierungen konstituiert werden, sind nicht die Gesellschaft in verschiedene Seins-Bereiche differenzierende Unterscheidungen, sondern entsprechen unterschiedlichen Beobachtungen – hinsichtlich der angewandten Leitdifferenz – der ganzen Welt. „Nicht das Sein der Welt wird geteilt, sondern es kommt zu unterschiedlichen Beobachtungen [Hervorhebung im Original]“ (Kneer & Nassehi, 1997, S. 135).

Zu den nach ihrer Funktion differenzierten Teilsystemen der modernen Gesellschaft gehören: Wissenschaft, Politik, Bildung, Religion, Recht, Wirtschaft, Kunst etc. Jedes dieser Systeme funktioniert, wie oben bereits angesprochen, nach je eigenen Codes, Programmen und Prozessen. Für vier dieser Teilsysteme sind diese in Tabelle 1 dargestellt.

Wissenschaft Politik Recht Wirtschaft
Funktion Erweiterung von Wissen Kollektiv verbindliche Entscheidungen Stabilisierung normativer Erwartungen Regulierung von Knappheit
Medium Wahrheit Macht Recht Geld
Code wahr/unwahr Macht haben/nicht haben recht/unrecht Zahlen/nicht zahlen
Programm Methode und Theorie Regeln der Politik Rechtsordnung, Gesetze etc. Wirtschaftsordnung
Kommunikation wissenschaftliche Aussage Politische Entscheidung Rechtsaussagen Wirtschaftliche Transaktion

Tabelle 1: Funktionssysteme (angelehnt an: Schneider, 2002, S. 361, Tafel 9.13 übernommen aus Münch, 2004, S. 213, Tabelle 3.1)

Diese funktionalen Teilsysteme stehen in einer System/Umwelt-Beziehung zueinander, was der Gesellschaft eine möglichst hohe Komplexität intern zu produzieren. Die wechselseitigen Irritationen dieser Funktionssysteme werden durch strukturelle Kopplung (vgl. 4.10. Strukturelle Kopplung) geordnet, wodurch diese Irritationen in eine geordnete Form gebracht werden. So werden bspw. Recht und Wirtschaft durch Eigentum und Vertrag aneinander gekoppelt. Für eine Übersicht siehe Tabelle 2. Zur strukturellen Kopplung schreibt Münch (2004, S. 213): „Strukturelle Kopplung führt nach Luhmanns Konstruktion nicht zur Überschneidung zwischen den Funktionssystemen. Die Brücke ist in beiden aneinander gekoppelten Systemen in jeweils anderer Weise, nämlich in eigener Beobachtung präsent.“ So gilt z. B. für „das Recht ist das Eigentum ein Rechtstitel, für die Wirtschaft eine ökonomische Ressource“ (Münch, 2004, S. 213). Die funktionellen Teilsysteme bleiben trotz dieser strukturellen Kopplung strikt voneinander getrennt.

Funktionssystem Strukturelle Kopplung Funktionssystem
Recht Verfassung Politik
Recht Eigentum/Vertrag Wirtschaft
Wissenschaft Universitäten Erziehungssystem
Wirtschaft Zeugnisse/Zertifikate Erziehungssystem
Politik Steuern/Abgaben, Notenbank Wirtschaft
Politik Politische Beratung Wissenschaft

Tabelle 2: Strukturelle Kopplung (Übernommen aus Münch, 2004, S. 214, Tabelle 3.2)

Diskussion

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Nun sollen verschieden Kritikpunkte an der Systemtheorie aufgelistet werden. Da diese Theorie etliche Fragen aufwirft, sind auch viele der nachstehenden Punkte als solche formuliert.

  • Die Systemtheorie bietet ein grundlegendes, umfassendes, logisches, in sich geschlossenes Begriffssystem an.
  • Die Theorie Luhmanns ermöglicht eine theoretische Analyse des Sozialen und der Gesellschaft.
  • Luhmann zeigt auf, „wie das soziale Leben über unmittelbare Interaktionen hinaus organisiert ist“ (Münch, 2004, S. 222).
  • Es kann gezeigt werden (natürlich nur modellhaft), wie durch Selbstorganisation Ordnung reproduziert werden kann (vgl. Münch, 2004, S. 222f.).
  • Luhmann stellt seine Theorie auf mehr oder weniger naturwissenschaftliche Beine.
  • Die Systemtheorie schafft es ohne einen „philosophisch vorbelasteten“ Subjektivitätsbegriff auszukommen (vgl. Vogd, 2007, S. 300).
  • Durch die Betonung der je eigenen Strukturen, Programme, Codes etc. unterschiedlicher Systeme/Funktionssysteme kann stets aufgezeigt werden, dass ein soziales Geschehen unterschiedlich interpretiert wird und zu verschiedener Anschlusskommunikation führt (vgl. Kühl, 2007, S. 289).
  • Die Inhalte der Systemtheorie können auch als Kritik an dieser verwendet werden: Die Theorie Luhmanns geht davon aus, dass der Beobachter nur das sieht was er sehen kann, für alles andere ist er ‚blind’. Wenn man mit Hilfe der Systemtheorie ‚beobachtet’, könnte man unterstellen, dass man ebenso für vieles blind wird.
  • Die Theorie ist sehr abstrakt und allgemein. Es ist daher schwierig, sie empirisch zu überprüfen. Ihre Erklärungen, die sie für gesellschaftliche Phänomene liefern kann, bleiben daher auch abstrakt und allgemein.
  • Wie soll die Systemtheorie operationalisiert werden?
  • Luhmanns Theorie beschäftigt sich zu sehr mit sich selbst, anstatt dass sie einen praktikablen Bezugsrahmen für empirische Forschung darstellt (vgl. Vogd, 2007, S. 297).
  • „Ihre [jene der Systemtheorie] Abstraktionen sind nur sinnvoll, wenn Systeme als empirische Gegenstände begriffen werden, die zwar als rationale Gebilde nicht sichtbar und greifbar, die sehr wohl aber als prinzipiell rekonstruierbar zu verstehen sind“ (Vogd, 2007, S. 295). Könnte man der Systemtheorie hier Reifikation vorwerfen?
  • Wo bleibt der intentional handelnde Mensch? Kann Intentionalität als täglich wahrnehmbares mentales Phänomen bezweifelt werden?
  • Jedes System ist selbstreferentiell und in seiner Logik geschlossen. Jedes System ist daher „Funktion seiner selbst“ (Vogd, 2007, S. 300). Ist dies nicht tautologisch?
  • Ist die Grundannahme Luhmanns – die Komplexität der Welt – immer richtig? „Normalerweise leben die Menschen nicht in einer so komplexen Welt, weil sie in einer vorgegebenen Lebenswelt gemeinsam geteilter Weltsichten und Normen hineingeboren werden“ (Münch, 2004, S. 224).
  • Eine weitere Annahme von Luhmann ist jene, dass Akteure (fast) jede Art von Ordnung akzeptieren, nur damit überhaupt Ordnung vorhanden ist. Entspricht dies der Wahrheit? Akzeptieren Menschen in modernen Gesellschaften jede Art von Herrschaft bzw. Machtausübung?
  • Luhmann stellt in seiner Theorie die Welt in ihrer Ordnung so instabil dar, als dass sie jederzeit zusammenbrechen könnte. Nach Luhmann gibt es keine dauerhafte Struktur, da alles einem ständigen Reproduktionsprozess unterliegt. Würde dies der Wahrheit entsprechen gäbe es prinzipiell keine Vorhersagbarkeit. Das Entstehen von nicht zufälliger Ordnung (z. B. Zwang, Konsensbildung etc.) lässt sich durch das Begriffsinventar Luhmanns nur sehr schwer fassen (vgl. Münch, 2004, S. 223f.).
  • Systeme weisen unterschiedliche Strukturen auf, nach denen sie Kommunikation transformieren. Luhmann geht davon aus, dass sich diese Systeme nicht überschneiden können, da die systeminternen Regeln stets andere sind. Wie können Phänomen wie z. B. Konsensbildung oder rationaler Diskurs erklären?
  • Ist die Annahme von binären Codes richtig? Lässt sich beispielsweise die Struktur/der Code eines politischen Systems nur auf das Ziel der Gewinnung von Wählerstimmen reduzieren? (vgl. Münch, 2004, S. 225)
  • Es ist durchaus nachvollziehbar, dass z. B. das politische System lediglich nach Kriterien der Macht(erhaltung) operiert, es ist jedoch sehr schwer vorstellbar, dass beispielsweise das wissenschaftliche System keine oder nur wenig Einfluss auf das politische System nimmt. Wissenschaftliche Errungenschaften finden meist sehr bald Anklang in Politik und Wirtschaft.


Rezeption und Wirkung

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Obwohl Luhmann Hobbes Lösung ablehnt, zeigt sich seine Darstellung der Systemtheorie als ähnlich. Beide befinden dass die Menschheit Erfahrung von Unordnung als untragbar empfindet und dadurch konvergierend die Ordnung der Unordnung vorzieht. Somit beschäftigt sich Luhmann noch einmal mit der Lösung des Ordnungsproblems durch Hobbes. Einzig unterscheidet sich Luhanns Definition darin, dass er soziale Ordnung als verhandelte Ordnung sieht und nicht wie Hobbes als ein für alle Mal in einem Sozialvertrag geschaffene (vgl. Münch, 2004).

Weiters ist Luhmanns Ansatz was die Frage nach "wie Ordnung in einer Gesellschaft entsteht und sich auflöst" der Chaostheorie oder Chaosforschung ähnlich. Jedoch ist zufällige Ordnung nur ein Aspekt des sozialen Lebens, auch ist es eine künstliche Annahme, wenn er von der Komplexität der Welt ausgeht. Vielmehr sind wir durch eine vorgegebene Lebenswelt, in der alle ähnliche Weltsichten und Normen teilen, hineingeboren und damit in unseren Sinngrenzen eingeschlossen (vgl. Münch, 2004).


Literatur

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  • Diekmann, Johann (2004):
    "Luhmann-Lehrbuch"
    Paderborn
  • Hennen, Manfred (2002):
    "Systemtheorie In: Endruweit, Günter & Trommsdorff, Gisela [Hrsg.]
    "Wörterbuch der Soziologie. 2. Auflage"
    Stuttgart, S. 587-590.
  • Kneer, Georg/ Nassehi, Armin (1997):"
    "Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 3. Auflage"
    München
  • Korte, Hermann (2004):
    "Soziologie"
    Konstanz
  • Kühl, Stefan (2007):
    "Formalität, Informalität und Illegalität in der Organisationsberatung In: SozW. Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis"
    S. 271-295.
  • Luhmann, Niklas (2005): Einführung in die Theorie der Gesellschaft. (herausgegeben von Dirk Baecker). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.
  • Luhmann, Niklas (2002):
    "Einführung in die Systemtheorie (herausgegeben von Dirk Baecker)"
    Heidelberg
  • Luhmann, Niklas (1989)
    "Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie. Band 3"
    Frankfurt am Main
  • Luhmann, Niklas (1986):
    "Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?"
    Opladen
  • Luhmann, Niklas (1980):
    Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie. Band 1"
    Frankfurt am Main
  • Luhmann, Niklas (1975):
    "Soziologische Aufklärung. Band 2. 3. Auflage"
    Opladen
  • Münch, Richard (2004):
    "Soziologische Theorie. Band 3: Gesellschaftstheorie"
    Frankfurt am Main, S. 179-232.
  • Schneider, Wolfgang (2002):
    "Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 2"
    Wiesbaden
  • Vogd, Werner (2007):
    "Empirie oder Theorie? Systemtheoretische Forschung jenseits einer vermeintlichen Alternative In: SozW. Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis. 2007, 58 (3)"
    S. 295-323

Internetquellen

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Podcast-Tipp

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Soziopod #046: Was ist das für 1 Luhmann?

Einzelnachweise

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  1. Münch, 2004, S. 185
  2. Luhmann, 2002, S. 90
  3. Luhmann, 2002, S. 147f.
  4. Kneer & Nassehi, 1997, S. 132