Soziologische Klassiker/ Freyer, Hans

Grundstruktur des Kapitels:


Biographie in Daten

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Johannes Freyer

  • geboren am 31. Juli 1887 in Leipzig
  • gestorben am 18. Januar 1969 in Ebersteinburg
  • deutscher Soziologe, Historiker und Philosoph


  • Vater: Ludwig Freyer, Postdirektor
  • Mutter: Helene Freyer, geborene Broesel
  • Ehe: 1923 mit Käthe Lübeck
  • Kinder: Dietrich Freyer, Ursula Freyer, Barbara Freyer, Brigitte Freyer
  • Religion: evangelisch


Ausbildung

  • Hans Freyer besuchte das königliche Elitegymnasium in Dresden-Neustadt und legte dort 1907 die Reifeprüfung ab.
  • 1907 bis 1911: wechselte er von der Universität Greifswald an die Universität Leipzig und studierte dort Philosophie, Psychologie, Nationalökonomie und Geschichte
  • 1911: schrieb er seine Dissertation zum Thema „Geschichtsauffassung der Aufklärung“
  • 1911 bis 1914: neben der Lehrtätigkeit an der Reformschule in Wickersdorf arbeitete er an weiteren Studien an der Universität Berlin
  • 1920: mit „Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts“ habilitierte Freyer in der Philosophie an der Universität Leipzig


berufliche Tätigkeiten


  • 1911 bis 1914: lehrte er an der Reformschule der Freien Schulgemeinde Wickersdorf
  • 1920 bis 1922: arbeitete Freyer als Privatdozent für Philosophie an der Universität Leipzig
  • 1922 bis 1925: als Professor der Kulturphilosophie an der Universität Kiel tätig
  • 1925: erhielt Freyer in Leipzig den ersten Lehrstuhl für Soziologie ohne eine zusätzliche Beiordnung eines anderen Faches
  • 1933: löste er den bisherigen Präsidenten Ferdinand Tönnies der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ab, legte sie jedoch sehr bald still
  • 1933: durch die Emigration vieler Vertreter des Lehrstuhls wurde dieser aufgelöst. Deshalb war Freyer als Professor für Politische Wissenschaften am Institut für Kultur- und Universalgeschichte tätig
  • 1933 bis 1948: Freyer war als Direktor des Institutes für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig tätig, durch seine Gastprofessur in Budapest jedoch unterbrochen
  • 1935 bis 1944: Leitung des Deutschen Kulturinstituts in Budapest
  • 1938 bis 1944: nahm Freyer das Angebot der Universität Budapest als Gastprofessor für deutsche Kulturgeschichte und Kulturphilosophie an
  • 1941 bis 1944: war er zusätzlich Direktor der Kulturgeschichte und Kulturphilosophie an der Universität Budapest
  • 1944 bis 1948: kehrte Hans Freyer wieder nach Deutschland zurück und lebte in Leipzig
  • 1946: Freyer lehrte erneut als Soziologe an der Universität Leipzig
  • 1947: wurde er beurlaubt, als Grund wurde sein Nahverhältnis zum Nationalsozialismus angeben, jedoch war er nie Mitglied der NSDAP
  • 1948: Hans Freyer wurde entlassen und zog im gleichen Jahr nach Westdeutschland
  • 1948 bis 1952: Leitender Redakteur im wissenschaftlichen Bereich beim „Großen Brockhaus“ des Brockhaus-Verlages in Wiesbaden
  • 1953 bis 1963: lehrte er als emeritierter Professor für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster
  • 1953, 1954, 1957 und 1960: lehrte er als Gastprofessor in Ankara und Argentinien
  • 1954: half er kurzzeitig am Aufbau eines soziologischen Institutes in Ankara
  • 1958: Als Präsident leitete Hans Freyer den Weltkongress des Instituts International de Sociologie in Nürnberg


Mitgliedschaften

  • ab 1910: Mitglied des sogenannten „Sera-Kreises“, eine Gemeinschaft, in der persönliche kulturelle Betätigung auf hohem Niveau im Mittelpunkt stand


Auszeichnungen

  • Militär-St.Heinrichs-Orden im Ersten Weltkrieg
  • 1957: Ehrendoktor der Wirtschaftswissenschaften in Münster
  • 1961: Ehrendoktor der Ingenieurwissenschaften an der Technischen Hochschule in München


Schüler von Freyer waren

  • Arnold Gehlen
  • Karl Heinz Pfeffer
  • Helmut Schelsky
  • Hans Freyer pflegte engen Kontakt zu Georg Simmel


Freyer war Schüler von

  • Karl Lamprecht
  • Wilhelm Wundt
  • Karl Bücher
  • Johannes Volkelt


Historischer Kontext

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Hans Freyer durchlebte den ersten und auch den zweiten Weltkrieg. Somit wurden seine Werke durchwegs von den dramatischen Entwicklungen Deutschlands, vom Niedergang bis zur modernen Industriegesellschaft beeinflusst. Es war eine immerwährende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den damaligen Ereignissen. Anzumerken ist auch, dass Hans Freyer niemals Mitglieder der NSDAP war.


Theoriegeschichtlicher Kontext

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Hans Freyer wurde stark vom deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen „Hegelschen Systemdenken“ beeinflusst. Mit seinen aufstufenden Objektivationsschritten (näheres weiter unten) lieferte er einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen Symboltheorie.


Ein Auszug aus Hans Freyer’s Werken:

  • 1911: Geschichte der Geschichte der Philosophie im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig. (war zugleich Freyers philosophische Dissertation in Leipzig)
  • 1918: Antäus. Grundlage einer Ethik des bewussten Lebens.
  • 1921: Die Bewertung der Wirtschaft in philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts. Leipzig. (war zugleich Freyers Habilitationsschrift)
  • 1923: Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie. Leipzig-Berlin
  • 1923: Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur
  • 1925: Der Staat. Leipzig
  • 1930: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Leipzig-Berlin
  • 1931: Einleitung in die Soziologie. Leipzig.
  • 1931: Revolution von rechts
  • 1933: Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik. Hamburg
  • 1936: Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart. Leipzig
  • 1938: Machiavelli. Leipzig
  • 1948: Weltgeschichte Europas. 2 Bände. Wiesbaden
  • 1951: Politische Grundbegriffe. Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus, an ihrem Ursprung aufgesucht. Wiesbaden.
  • 1955: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart
  • 1957: Das soziale Ganze und die Freiheit der Einzelnen unter den Bedingungen des Industriellen Zeitalters. Berlin-Frankfurt am Main
  • 1961: Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft. Mainz
  • 1965: Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur. Stuttgart
  • 1965: Technik im technischen Zeitalter. Stellungnahmen zur geschichtlichen Situation. Düsseldorf
  • 1970: Gedanken zur Industriegesellschaft. Mainz. (besorgt von Arnold Gehlen, eine Publikation Freyers unvollendeten Werkes „Theorie der Industriegesellschaft“)
  • 1986: Preußentum und Aufklärung und andere Studien zu Ethik und Politik. Weinheim
  • 1987: Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie. Weinheim


Das Werk in Themen und Thesen

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In den Werken Freyers finden sich nicht nur Themen der Soziologie sondern auch der Philosophie und Geschichte, somit ist eine Einteilung nach inhaltlichen Schwerpunkten sehr schwierig. Besser ist eine Gliederung, die den Wandlungen seines Systemkonzeptes folgt, welche durch die Strukturumbrüche der Zeit bedingt sind. Zwei Konstanten in Freyers Werk sind die Gedanke des Systems und die „Leipziger Schule“.


Freyers System der Soziologie

Seine Konzeption der Soziologie drückt die „Selbsterkenntnis einer Gegenwart aus“. Es besteht die Möglichkeit, dass sich eine Zukunft allein aus der Gegenwart schafft und dass der Mensch seine eigenen Ideen auch zur Verwirklichung bringen kann. Freyer meint, dass die Soziologie immer eine Antwort auf vielfältigste Anforderungen der verunsicherten Öffentlichkeit hat. Diese Antwort soll die „Selbstfindung“ sein, somit ist die Soziologie zum „Organ“ des Gemeinschaftswillen geworden. Für ihn ist Soziologie „Krisenwissenschaft“, sozusagen eine wissenschaftliche Selbstreflexion einer Gesellschaft im Umbruch. Freyer verlangt die Umwertung der gesellschaftlichen Utopien zu heuristischen Arbeitshypothesen in der Wissenschaft, die expressionistischen Zukunftsvisionen sollen rein mystisch-religiöse Utopien bleiben.


„Die Theorie des objektiven Geistes“

Freyer sagt, dass die „Wirklichkeit“ einer hierarchischen und gleichzeitig fließenden Ordnung von geistigen Objektivationen auf die eigenen Prinzipien der Formwerdung unterworfen ist. Er analysiert den Ablöseprozess der Kulturgebilde in dreistufig erfolgenden Objektivationsschritten.

Freyer bezeichnet den ersten Objektivationsschritt als „gegenständliche Wendung“. Zeichen, so meint Freyer, sind keine spontanen menschlichen Ausdrucksformen mehr, sondern werden zu darstellenden oder „symbolischen“ Gebärden. Den zweiten Objektivationsschritt bezeichnet er als „objektive Wendung“. Hier wird das „Zeichen“ zur „Form“, jetzt bezeichnet eine Geste „Gegenständliches“. Der „objektive Geist“ (oder „Kultur“) wird durch den dritten Objektivationsschritt möglich, welcher als Ablösung von jeglichem ausführenden Akt zu denken ist, als „theoretische Wendung“. Somit ist die Kulturwirklichkeit als eine neue Sphäre anzusehen, die Formen der Kulturwirklichkeit werden nach fünf Kategorien unterschieden:

  • 1. Kategorie „Gebilde“: in sich zentriert, unabhängig von anderen Sinnzusammenhängen und sehr objektiv. Die soziale Dimension ist irrelevant
  • 2. Kategorie „Gerät“: gegensätzlich zu „Gebilde“. Sinngehalt ist durch die soziale Dimension geprägt. Das „Gerät“ hat das Handlungsfeld der Handlung verändert.
  • 3. Kategorie „Zeichen“: wirkt über sich hinausweisend. Jedes „Zeichen“ hat einen doppelten Sinngehalt (weist nicht nur auf eine Bedeutung, sondern auch auf einen gegenständlichen Sachverhalt hin)
  • 4. Kategorie „Sozialform“: soziale Bezüge haben selbst einen gegenständlichen Sinngehalt. Aufgrund von einer Fülle an Motiven enthält sie einen immanenten teleologischen Zusammenhang.
  • 5. Kategorie „Bildung“: Objektivierung des persönlichen Lebens. Subjektive Lebenseinheit ist erst dann erzielt, wenn das Objektiv-Sinnhaltige nicht nur gewusst und getan wird, sondern die Person das Objektiv-Sinnhaltige ist.

Der objektive Sinngehalt bleibt durchwegs Schlussstück des Kreislaufes auch bei einer Rückbindung des Objektivationsprozesses an die Sozialität, wobei die Reduktion der Objektivationen nicht zur Reduktion der Objektivationen auf diese soziale Dimension führt. Freyer sagt, dass erst durch die Objektivationen eine soziale Gemeinschaft zu Leistungen gelangt und am Ende gewinnt der „objektive Geist“ über die aktuellen Subjekte. Beispielsweise ist die Geschichte nicht nur der Weg zu den Menschen, sondern auch der Weg zu etwas, das mehr ist als der Mensch selbst.


„Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“

Die Rückbindung der Objektivationen mit der Sozialität wurde zur Grundlage des Systems der „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“. Die „Sozialform“ als Regel und Beziehungsgefüge ist für Freyer’s Soziologie Forschungsgegenstand, somit ist die Soziologie immer „Kulturwissenschaft“. Der Begriff der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist somit immer auf die Ebene der Synthese von objektiver Kulturwelt und Sozialität zu beziehen. „Wirklichkeit“ ist ein theoretischer-synthetischer Begriff, welcher gegenständliche Verselbständigung und soziale Konstruktion in sich vereint. Gegenstand der Kulturphilosophie Freyers war die Wirklichkeit des spannungsgeladenen Objektivationsprozess (Ablösung vom individuellen seelischen Erleben, Ablösen vom Entstehungsprozess und Ablösung vom direkt ausführenden Akt).


Der Begriff der Wirklichkeitswissenschaft und der Logoswissenschaft

Der Begriff Logoswissenschaft, welcher mit fertigen, abgeschlossenen Objekten zu tun hat, stammt von Hans Freyer. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft mit weiterdrängendem, zukunftshaltigem Geschehen. Somit kann die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, nicht wie die Logoswissenschaft die reine Haltung der Theorie und des nachvollziehenden Verstehens einnehmen, sondern hat sich als Teil des existentiell bedeutsamen Geschehens zu betrachten. Als Aufgabe der Wirklichkeitswissenschaft ist die Koppelung zwischen „Geist“ und „Leben“ zu verstehen. Ein weiteres besonderes Kennzeichen der Wirklichkeitswissenschaft ist, dass sie „Ethoswissenschaft“ sein soll, also Ethos der Geschehenswirklichkeit zur Achse der Erkenntniswissenschaft. Ihre Erkenntnisobjekte sollen eine Willensrichtung in sich tragen.

Jedoch wird das Konzept der „Wirklichkeitswissenschaft“ von vielen seiner Zeitgenossen kritisiert und als voluntaristisch und polemisch bewertet. Andreas Walther sagt, Freyer sei es gelungen, eine Verschmelzung von „Idealismus“ und „Materialismus“, von „Staat“ und „Gesellschaft“ herzustellen. Die „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft“ sei theoretisch anzuerkennen, jedoch eine praktische Anwendung zu verneinen. Des weiteren betrachtet René König Freyer’s Konzeption der Wirklichkeitswissenschaft als „historisch-existenzialistische Soziologie“ kritisch.


Rezeption und Wirkung

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Die Leipziger Schule und Hans Freyer

Gründer der Leipziger Schule waren berühmte Gelehrte der Universität Leipzig wie Wilhelm Wundt, Gustav Theodor Fechner, Friedrich Ratzel, Wilhelm Ostwald, Karl Lamprecht und Wilhelm Roscher. Die Gelehrten aus den verschiedensten Richtungen trafen sich wöchentlich und waren auf der Suche nach einer „positiven“ Wissenschaftsphilosophie, welche alle Einzelwissenschaften vereinigen sollte, somit verstanden sie sich auch als „Positivisten“. Die Leipziger Schule verknüpft mit einer Leichtigkeit Kulturphilosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Staatslehre, Psychologie, Pädagogik und Theologie miteinander und ist immer für neue Fragestellungen offen.

In der Zwischenkriegszeit wurde die Leipziger Schule dann von Hans Freyer, Hans Driesch, Arnold Gehlen, Theodor Litt und Helmut Schelsky erfolgreich weitergeführt. „Schule“ in diesem Sinn ist durch ein gemeinsames wissenschaftliches „Ethos“ definiert, bei dem in eine allgemeine methodologische Richtung geforscht und gelehrt wird. Der Begriff „Schule“ ist also als ein lockerer, sozialer Kreis zu verstehen, eine geistige Verbundenheit.


Erster Lehrstuhl der Soziologie

Am 3. Januar 1925 erhielt Hans Freyer erstmalig den neu errichteten deutschen Lehrstuhl für Soziologie, ohne einer Beiordnung eines anderen Faches. Anfangs war das sehr kleine Institut innerhalb des Institutes für Kultur- und Universalgeschichte untergebracht. Die Besetzung des ersten Lehrstuhles für Soziologie sah folgendermaßen aus:

  • Professur – Hans Freyer
  • Privatdozentenstelle – Gunther Ipsen
  • Assistent – Willy Bloßfeldt

Wie auch innerhalb der Leipziger Schule gab es intensiven, wissenschaftlichen Austausch mit der Psychologie, Religionswissenschaft, Philosophie und der Pädagogik. Am Institut herrschte eine kameradschaftliche Atmosphäre, welche bis in den privaten Bereich ragte.

Literatur

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  • Üner, Elfriede (1992):
    "Soziologie als „geistige Bewegung“. Hans Freyers System der Soziologie und die „Leipziger Schule“
    Weinheim
  • Willers, Dietrich (1966):
    "Verzeichnis der Schriften von Hans Freyer"
    Darmstadt
  • Fruchs-Heinritz / Lautmann / Rammstedt / Wienold [Hrsg.] (1994):
    "Lexikon zur Soziologie. 3. neu bearbeitet und erweiterte Auflage"


Internetquellen

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