Sei doch vernünftig: Defizitgefühle
Defizitgefühle trotz wissenschaftlichen Fortschritts: Friedrich Schiller
Vielleicht dürfen wir (sehr verkürzt!) an ein Gedicht von Friedrich Schiller erinnern. Schiller hatte das große Defizit-Gefühl, das viele heute wieder empfinden, schon 1793 sehr gut ausgedrückt:
DIE GÖTTER GRIECHENLANDS
(Friedrich Schiller)
DA IHR NOCH DIE SCHÖNE WELT REGIERET,
AN DER FREUDE LEICHTEM GÄNGELBAND
SELIGE GESCHLECHTER NOCH GEFÜHRET
SCHÖNE WESEN AUS DEM FABELLAND -
ACH, DA EUER WONNEDIENST NOCH GLÄNZTE,
WIE GANZ ANDERS WAR ES DA!
DA MAN DEINEN TEMPEL NOCH BEKRÄNZTE,
VENUS AMATHUSIA!
DA DER DICHTUNG ZAUBERISCHE HÜLLE
SICH NOCH LIEBLICH UM DIE WAHRHEIT WAND,
DURCH DIE SCHÖPFUNG FLOSS DA LEBENSFÜLLE,
UND WAS NIE EMPFINDEN WIRD, EMPFAND.
WO JETZT NUR, WIE UNSERE WEISEN SAGEN,
SEELENLOS EIN FEUERBALL SICH DREHT,
LENKTE DAMALS SEINEN GOLDNEN WAGEN,
HELIOS IN STILLER MAJESTÄT.
DAMALS TRAT KEIN GRÄSSLICHES GERIPPE
VOR DAS BETT DES STERBENDEN. EIN KUSS
NAHM DAS LETZTE LEBEN VON DER LIPPE,
SEINE FACKEL SENKT' EIN GENIUS.
- Die Wahrheit sehen zu können, davon versprach man sich einst das höchste Glück. Mit ihr glaubte man zugleich das Gute und Schöne erkennen zu können. Heute gilt nur noch ganz prosaisch: 'Wahrheit ist die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit' (Tarski, Popper).
- Helios, der Sonnengott, ist heute ersetzt durch den Feuerball einer atomaren Kernverschmelzung, die uns Wärme noch für ein paar Milliarden Jahre gibt, dann wird er sich ausdehnen und die Erde verglühen lassen.
- Das "grässliche Gerippe" - das ist heute die Apparatemedizin; hilfreich und doch unbefriedigend: aus dem bedeutungsvollen Tod wurde ein medizinisch unterstütztes mehr oder weniger leichtes Sterben.