Sei doch vernünftig: Altes und neues Denken
MORAL: Was ist richtig und was ist falsch? Altes und neues Denken: z. B. Was ist Gerechtigkeit?
- Moral bezeichnet ein System von Regeln, Prinzipien und Gefühlen (wie das Gewissen), mit denen wir das gesellschaftliche Zusammenleben verbessern möchten.
Ob das mit den dafür erfundenen Regeln und Prinzipien und evolutionär entwickelten Gefühlen tatsächlich gelingt? Das kann man nachprüfen, wenn auch nicht so leicht wie in den Naturwissenschaften. Aber über lange Zeit gesehen und durch Vergleich mit den verschiedenen Lösungen verschiedener Gesellschaften kann man nachprüfen, wer zum Beispiel die bessere moralische Regel erfunden hat.
Natürlich muss dafür die Problemlage sehr ähnlich sein, sonst kann man keine Vergleiche anstellen. Das ist häufig der Fall; denn die Menschen sind sich gerade auf moralischem Gebiet viel ähnlicher als viele es wahrhaben wollen, die kleine Unterschiede entdecken und derentwegen dann mit Hilfe wahnwitziger Übertreibungen uns weismachen wollen, es gebe unterschiedliche Menschenrassen.
So einfach die Überprüfung moralischer Prinzipien ist, so schwer ist es erst einmal, von alten falschen Denkgewohnheiten loszukommen. Daher zunächst ein konkretes Beispiel.
Stellen Sie sich einen Kindergeburtstag vor.
Das letzte Stück Kuchen
soll gerecht verteilt werden.
Der Onkel wird gerufen. Der ist zufällig Philosoph. Er denkt also in traditioneller Weise darüber nach, was das wahre Wesen der Gerechtigkeit ist, er "arbeitet am Begriff", wie Hegel das tun würde... ... ...und kommt zu keinem Ende.
Derweil machen die Kinder es anders...
Seid Ihr alle einverstanden, wenn wir es aufteilen?
Nö, dann hat ja keiner 'was davon.
Wer bisher am wenigstens hatte, soll's haben. Das ist's! Schon sind alle einverstanden und die GERECHTIGKEIT ist gewahrt.
Wir haben in erster Linie gar nicht nach Gerechtigkeit gesucht, sondern nach der Lösung für ein ganz konkretes aktuelles Problem!
Gerechtigkeit ist nur ein Wort für die richtige Zuteilung von Ressourcen.
Gemäß dem Kritischen Rationalismus wäre das der Fall, wenn nicht nur die Mehrheit der Beteiligten, sondern alle gemeinsam auf ein Ergebnis kommen.
Ressourcen sind alle Dinge, die einen dazu helfen können Dinge zu tun. Nur wenn man auch gegessen hat, z.B. einen Kuchen, hat man Kraft weiterzuspielen.
Einen solchen Zweck von Dingen sieht der kritische Rationalist aber nicht. Er konzentriert sich nur auf den „Konsens der Vernünftigen“, die irgendwie zum Ziel kommen.
Ein Hinweis für die Gerechtigkeit ist, dass möglichst viele mit ihr einverstanden sind. Es stellt aber keinerlei Beweis dar.
Bei anderer Problemlage wären die Betroffenen zu einer anderen Lösung gekommen (wenn z.B. zwei der Kinder kurz vor dem Verhungern gewesen wären).
Könnte man Gerechtigkeit nur aus dem Begriff ableiten, dann gäbe es nur eine Lösung für alle Menschen und für alle Zeiten. Wäre das nicht sehr unflexibel und in den meisten Fällen unangebracht, wenn man die jeweilige Problemlage gar nicht berücksichtigen würde? Gerechtes Handeln lässt sich also nur durch Beachtung der Realität umsetzen.
Wir sehen also, dass Gerechtigkeit nicht einfach eine gleichmäßige Verteilung ist, sondern Nachdenken erforderlich ist, um alle zufrieden zu stellen.
Das Kind, was noch keinen Kuchen gegessen hat, isst nun das letzte Stück. Es hält die Entscheidung für richtig, weil es Hunger hat. Die anderen Kinder sehen das genauso.
Die gerechte Lösung ist gefunden. Aber wir können noch etwas lernen: nämlich ein Problem kommt selten allein. Zufällig hat das Kind, das das letzte Kuchenstück bekam, die Krankheit Zöliakie, also Glutenunverträglichkeit, und bekommt deshalb vom Kuchen Bauchschmerzen. Hat es richtig gehandelt? Möglicherweise hat es gerecht und richtig gehandelt, aber mit den Bauchschmerzen wird es leben müssen. Durch Vernunft wird es nur wahrscheinlicher das Gewünschte zu erreichen und man wählt das geringere unter den Übeln. Und Kritischer Rationalismus geht auch davon aus, dass Konsensentscheidungen stets zu einem „vernünftigen Kompromiss“ führen – also das kurzfristige Resultat nicht immer ein perfekter Zustand ist, aber doch ein besserer als vorher. Auch wenn der kritische Rationalist davon ausgeht, dass der perfekte Zustand, also die Utopie nie erreicht wird. So schreibt Karl Popper in einem seiner Bücher: „Wir müssen uns mit der nie endenden Aufgabe begnügen, Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen und Mißstände abzustellen;“ Ob man das glauben sollte, sollte aber auch kritisch hinterfragt werden.