Philosophieren heißt sterben lernen/ Das philosophische Leben

Das philosophische Leben Bearbeiten

„Es gibt zwei Arten des Todes, der eine ist der natürliche Tod, den man nicht vermeiden kann, der andere aber ist der Tod des sinnlosen Lebens und der Anfang des sinnvollen Lebens. Dieser philosophische Tod ist gleichbedeutend mit dem Leben des Philosophen, [...] ist Kampf um die grossen Probleme und Aufgaben des Lebens.“[1]

Das philosophische Leben ist also in engem Zusammenhang mit dem Tod zu sehen. Theodorakopoulos gibt hier eine andere Nuance des Begriffs „Sterben“ an und setzt dieses „Sterben“ mit dem philosophischen Leben gleich: Das sinnlose Leben wird aufgegeben. Der Philosoph versucht also, seinem Leben Sinn zu geben, indem er es der Suche nach der Wahrheit und damit der Suche nach Weisheit widmet. Dies erreicht er, indem er seine Seele reinigt und diese vom Körper löst, also das Sterben übt.

Dieses Leben wird von Außenstehenden so interpretiert, dass der Philosoph seinen Körper verachte und für diese Welt schon tot sei. Demzufolge verdiene er auch nichts anderes als zu sterben. Diese Aussage bejaht Sokrates zum Erstaunen seiner Zuhörer, allerdings unter dem Vorbehalt, dass diese das Wesentliche an einer philosophischen Lebensweise nicht verstanden hätten. Es geht nicht darum, sein Leben nicht zu genießen und körperliche Bedürfnisse außer Acht zu lassen und wie ein Asket zu leben. Der Philosoph strebt allein nach der Weisheit und der Wahrheit der Dinge, die er schauen kann, wenn seine Seele, seine psyché, mit den Ideen verschmilzt.

Der Philosoph als Weisheits-Liebender Bearbeiten

Philosophen sind wörtlich übersetzt „Weisheits-Liebende“. Weisheit kann dadurch erlangt werden, dass man nach dem sucht, was die Wirklichkeit tatsächlich ausmacht, sich also nicht mit dem zufrieden gibt, was einem die Sinne bieten. Indem man den nous bemüht und allein von Gedanken ausgeht, die nicht wie die Informationen der Sinne durch Täuschungen verfälscht sein können, ist man auf der Suche nach der Wahrheit, nach dem, was wahr sein muss, da es nicht verfälscht sein kann. Dieser Suche nach der Wahrheit unter Bemühung des logos und des nous wird das philosophische Leben geweiht und sie ist es, die den Sinn dieses Lebens ausmacht, dem Philosophen „[...] ist die Vernunft der einzige Maßstab; sie muß also schon im Diesseits zu erlangen sein“.[2] Die Wahrheit ist für einen Philosophen der einzige sichere Anhaltspunkt für seine Lebensführung und gibt diesem Leben Sinn. Er ersehnt mit ihr die echte Weisheit in theoretischer und praktischer Form.[3] Um sie zu erlangen, bedarf es verschiedener Voraussetzungen:

Nur wenn sich ein Philosoph ausnahmslos in seinem Denken vom Verstand lenken lässt, kann er das Ideal des perfekten Wissens anstreben und das Sein in seiner wahren Erscheinung verstehen. Nur dann kann man davon sprechen, dass die psyché ins Denken einbezogen ist. Nur dann ist das Gehirn nicht länger ein bloßer Mechanismus, der von einem intuitiven, automatisch funktionierenden Selbst, dem soma als „Ich-jetzt-hier“ kontrolliert wird, sondern ein Instrument des nous ist“.[4] Ein Philosoph hinterfragt also Dinge mit Hilfe des nous, indem er – wie Dilman es ausdrückt – Folgendes beherzigt: „[...] not to take things at face value, to find his own way about in the thinking.“[5]

Er schafft also durch eine kritische Hinterfragung der Dinge eine eigene Sicht auf die Gegenstände seiner Gedankengänge und erlangt dadurch auch eine generelle Orientierung in wichtigen Lebensfragen. Für Sokrates geht es hierbei darum, die Unterscheidung zwischen dem, was wirklich, und dem, was eine Illusion ist, zu treffen. Dies geschieht wiederum im Rahmen eines spirituell orientierten Lebens.[6]


Die Reinigung der Seele Bearbeiten

Um zu dieser Weisheit zu gelangen, bedarf es einer besonderen Art zu denken und einer Reinigung der Seele, um durch kritisches Hinterfragen der Dinge zu Einsicht zu gelangen. Sokrates umschreibt den Zustand der Seele vor einer solchen Reinigung und eine geeignete Strategie zur Reinigung derselben folgendermaßen:

„Es erkennen die Liebhaber von Wissenschaft, daß die Philosophie, wenn sie ihre Seele in solchem Zustand übernimmt, ihr sanft zuredet und versucht, sie zu lösen, indem sie offenbart, daß die Untersuchung mittels der Augen voller Täuschung ist, voller Täuschung auch die mittels der Ohren und der anderen Sinne, und sie überzeugt, sich aus ihnen zurückzuziehen, so weit es nicht notwendig ist, sie zu gebrauchen, ihr dagegen anrät, sich in sich selbst zu sammeln, nichts anderem aber zu vertrauen als sich selbst, was sie, ganz für sich, vom Seienden ganz für sich erkennt.“[7]

Der erste Schritt zum Erlangen echter Weisheit besteht also darin zu erkennen, dass die Untersuchung mittels der Sinne „voller Täuschung“ ist. Aus diesem Grund soll sich die Seele aus den Sinnen zurückziehen und „ganz für sich“ sein. Das heißt, der Verstand muss von Prämissen ausgehen, die nicht empirisch gesammelt wurden. Die Prämissen muss er a priori, d.h. nur mit Hilfe seines Verstandes ohne Sinneseindrücke als Grundlage zu nehmen, erlangen können. Dadurch erhält die psyché auch die Möglichkeit, durch den nous die Ideen zu schauen, die ja rein geistige Dinge sind und an denen laut Platon auch nur Seelen teilhaben können, die rein geistig sind und nicht von körperlichen Begierden oder Zwängen kontrolliert werden. Diese Seelen befinden sich natürlich in einem Idealzustand, der im menschlichen Leben nicht erreichbar ist. Denn wer kann seinen Körper schon komplett missachten? Dennoch ist die Bemühung auf einen solchen Idealzustand hin schon eine Reinigung der Seele. Indem sie soweit wie möglich vom Körper getrennt wird, sich aus allen Ecken des Körpers sammelt und sich soweit wie möglich von den Fesseln des Körpers löst, wird sie durch diese Lebensführung gereinigt.[8]

In diesem stetigen Bemühen und im Streben nach der Wahrheit versucht die Seele, der Weisheit näher zu kommen. Durch diesen disziplinierten, „Sinn-vollen“ Charakter, den solch ein Leben auszeichnet, erlangt der Philosoph wahre Tugend, areté, als eine Art Nebenprodukt.[9] Mit Hilfe dieser Tugend erst kann vernünftig mit den Bedürfnissen des Körpers und seinen Lüsten umgegangen werden. Platon plädiert hier nicht für einen Asketismus, der für ihn nur eine weitere, allerdings negative, Betonung des Körperlichen darstellt. Indem der Körper unterdrückt wird, misst ihm der Asket genauso viel Bedeutung zu wie der Hedonist:

„[...] beiden ist in Wahrheit das Geistige nur eine Schimäre und das Sinnliche die eigentliche Wirklichkeit. [...] Der Philosoph hingegen weiß, daß der Körper die Seele nur dann fesseln kann, wenn sie sich von ihm beherrschen lässt (82e) – der Körper selbst ist unschuldig.“[10]

Die Reinigung oder katharsis, wie Sokrates sie in Anlehnung an die orphische Tradition nennt, meint hier also gerade nicht wie in der Orphik die tatsächliche Trennung vom Körper, sondern wird zum philosophischen Begriff als die Ausbildung von areté durch ein stetiges Streben nach Weisheit und einem sinnvollen Umgang mit dem eigenen Körper umgedeutet[11] oder, psychologisch ausgedrückt: „Katharsis meint also einen psycho-therapeutischen Prozess, bei dem die Seele ein hohes Maß an Autonomie gegenüber den körperlichen Bedürfnissen und biologischen Bedingungen gewinnt.“[12]

Nachdem er die Seele gereinigt hat, strebt der Philosoph1 danach, unter den Göttern zu weilen und ihnen ähnlich zu werden.[13] Der Philosoph kann dieses Ziel zwar nicht wirklich erreichen, da er im Kreislauf des Lebens und Sterbens gefangen ist, aber er kann versuchen, sein volles menschliches Potential auszuschöpfen.[14] Durch diese Reinigung wird die Seele in sich gesammelt und ist ganz für sich. Derjenige, der seine Seele derart reinigt, ist also darum bemüht, sie soweit wie möglich vom Körper zu lösen. Eben dies ist für Sokrates das wichtigste Merkmal eines wahren Philosophen16.

Die hier angedeutete Spitze gegen die Orphiker ist nicht wörtlich, sondern im erläuterten Kontext zu sehen. Sokrates vertröstet nicht wie diese auf ein Jenseits, in dem die Seele dann erst echte Weisheit erlangt. Philosophie besteht für ihn vielmehr darin, die Seele zu reinigen und Tugend auszubilden, die erst durch den Maßstab des Verstandes zu echter Tugend wird, mit Hilfe der ethisch über Handlungen entschieden werden kann. Die vernunftlose „Tugend“ der anderen ist für ihn „[↓...] ein bloßes Kosten-Nutzen-Kalkül, die Maximierung von Lust oder wenigsten die Minimierung von Unlust – eine Tapferkeit aus Furcht vor noch größeren Übeln.“[15]

Demzufolge strebt ein Philosoph nach Sokrates' Sinn nicht den tatsächlichen physischen Tod an – zumindest ersehnt er ihn nicht, da er ja erst seine Tugend in diesem Leben ausbilden muss, um die Ideen schauen zu können. Was meint Sokrates dann, wenn er davon spricht, dass es scheint, dass „alle, die sich auf die rechte Weise mit Philosophie befassen, [...] nichts anderes [...] betreiben als sterben und tot zu sein“?[16]



  1. vgl. Theodorakopoulos 1972: S. 73
  2. vgl. Zehnpfennig 1991: S. XXIII
  3. vgl. Rowe 1997: S. 429
  4. vgl. Beets 1997: S. 102
  5. vgl. Dilman 1992: S. 2
  6. ebd. S. 2 ff.
  7. vgl. 83ab
  8. vgl. Rowe 1997: S. 430
  9. vgl. Gotshalk 2001: S. 26
  10. vgl. Zehnpfennig 1991: S. XXIV
  11. vgl. Thedorakopoulos 1972: S. 72
  12. vgl. Thome 1994, S. 120
  13. siehe auch 2.1.1.
  14. vgl. Rowe 1997: S. 228
  15. vgl. Zehnpfennig 1991: S. XXIII
  16. vgl. 64a9