Mathematik: Analysis: Differentialrechnung: Differenzierbarkeit

Durch den Begriff der Stetigkeit einer Funktion $f$ an einer Stelle $a$ wird der Sachverhalt präzisiert, dass eine "kleine" Abweichung von $a$ auch nur eine "mehr oder weniger kleine" Abweichung vom Funktionswert $f(a)$ liefert. Durch den Begriff der Differenzierbarkeit wird dieses "mehr oder weniger" genauer qualifiziert, indem untersucht wird, wie groß die Abweichung vom Funktionswert im Verhältnis zum Argumentwert ist, und man dadurch zu einer Aussage über die "momentane" Funktionswertänderung an einer Stelle $a$ gelangt.

Sei $f$ eine Funktion, die in einer Umgebung $U$ von $x_{0}$ definiert ist, so dass also $D_{f}\cap U\not =\emptyset$ ist. Man bildet den so genannten Differenzenquotienten von $f$ bei $x_{0}$:

$d_{f,x_{0}}(x)\,{\stackrel {\text{def}}{=}}\,{\frac {f(x)-f(x_{0})}{x-x_{0}}}\;{\mbox{für alle }}x\in D_{f}\cap U,x\not =x_{0}.$

In konkreten Rechnungen ist es oft bequem, $h=x-x_{0}$ zu setzen; dann kann der Differenzenquotient auch so geschrieben werden:

${\frac {f(x_{0}+h)-f(x_{0})}{h}}.$

wobei $h$ so gewählt sein muss, dass $x_{0}+h\in (D_{f}\cap U)\setminus \{x_{0}\},$ insbesondere also $h\not =0$ ist. Man beachte, dass der Differenzenquotient an der Stelle $x_{0}$ (bzw. für $h=0$) nicht definiert ist.

Existiert aber der Grenzwert

$\lim _{x\to x_{0}}d_{f,x_{0}}(x)\quad \left({\mbox{bzw. }}\quad \lim _{h\to 0}{\frac {f(x_{0}+h)-f(x_{0})}{h}}\right),$

so heißt die Funktion $f$ differenzierbar bei $x_{0}$, und der Grenzwert $\lim _{x\to x_{0}}d_{f,x_{0}}(x)$ heißt Differenzialquotient von $f$ bei $x_{0},$ für den auch $\textstyle {\frac {{\text{d}}f(x_{0})}{{\text{d}}x}}$ oder (wesentlich genauer!) $\textstyle {\frac {{\text{d}}f(x)}{{\text{d}}x}}{\Big |}_{x=x_{0}}$ geschrieben wird.

Man kann nun jeder Stelle $x_{0},$ an der die Funktion $f$ differenzierbar ist, den zugehörigen Differenzialquotienten zuordnen, also die Funktion

$f^{\prime }\;{\stackrel {\text{def}}{=}}\,\left(x_{0}\mapsto \lim _{x\to x_{0}}d_{f,x_{0}}(x)\right)$

bilden; $\textstyle f^{\prime }$ heißt Ableitungsfunktion oder kurz Ableitung von $f,$ und man hat (falls vorhanden)

$f^{\prime }(x_{0})=\lim _{x\to x_{0}}d_{f,x_{0}}(x)$ für alle $x_{0}\in D_{f^{\prime }},$

und die Definitionsmenge von $f^{\prime }$ enthält genau diejenigen $x_{0},$ bei denen $f$ differenzierbar ist.

Nach dem eingangs zu Stetigkeit und Differenzierbarkeit Gesagtem erwartet man die Gültigkeit folgenden Satzes.

Satz

Wenn eine Funktion $f$ bei $x_{0}$ differenzierbar ist, so ist $f$ bei $x_{0}$ auch stetig.

Beweis. Die Differenzierbarkeit bei $x_{0}$ besagt, dass

$\lim _{h\to 0}{\frac {f(x_{0}+h)-f(x_{0})}{h}}=f'(x_{0})$

gilt. Unter Voraussetzung von $h\not =0$ und unter Benutzung von $\lim _{h\to 0}h=0$ rechnet man nun

$0=f'(x_{0})\cdot 0=\lim _{h\to 0}{\frac {f(x_{0}+h)-f(x_{0})}{h}}\cdot \lim _{h\to 0}h=\lim _{h\to 0}\left({\frac {f(x_{0}+h)-f(x_{0})}{h}}\cdot h\right)=\lim _{h\to 0}\left(f(x_{0}+h)-f(x_{0})\right),$

also $\lim _{h\to 0}\left(f(x_{0}+h)-f(x_{0})\right)=0.$ Dies aber ist äquivalent mit $\lim _{h\to 0}f(x_{0}+h)=f(x_{0}),$ womit die Stetigkeit von $f$ bei $x_{0}$ gezeigt ist. -

Aus der Stetigkeit bei $x_{0}$ kann aber nicht auf Differenzierbarkeit bei $x_{0}$ geschlossen werden; denn beispielsweise ist die Betragsfunktion $f=(x\mapsto |x|)$ an der Stelle $0$ stetig wegen $\lim _{h\to 0}f(0+h)=\lim _{h\to 0}|h|=0=f(0);$ aber wegen

${\frac {f(0+h)-f(0)}{h}}={\frac {|h|}{h}}={\begin{cases}+1,&\,{\text{falls }}h>0\\-1,&\,{\text{falls }}h<0\\\end{cases}}$

besitzt der Differenzenquotient bei 0 keinen Grenzwert, so dass $f$ bei 0 nicht differenzierbar ist.

Vorstehendes Beispiel zeigt, dass als differenzierbare Funktionen höchstens stetige Funktionen in Betracht kommen; ist eine Funktion dagegen nicht stetig, so kann sie erst recht nicht differenzierbar sein.

Beispiele zur Bildung der Ableitung:

1) Sei $f=\left(x\mapsto {\frac {4}{x+4}}\right)$ und $x_{0}=4.$

Man bildet zunächst den Differenzenquotienten von $f$ bei $x_{0}:$

$d_{f,4}(x)={\frac {f(x)-f(4)}{x-4}}={\frac {{\frac {4}{x+4}}-{\frac {1}{2}}}{x-4}}={\frac {8-(x+4)}{2(x+4)(x-4)}}={\frac {-x+4}{2(x+4)(x-4)}}=-{\frac {x-4}{2(x+4)(x-4)}}$ für alle $x\in \mathbb {R} \setminus \{-4;4\}.$

Da hier insbesondere $x\not =4,$ so ist

$d_{f,4}(x)=-{\frac {1}{2(x+4)}},$

wobei der Term auf der rechten Seite der Gleichung auch im Falle $x=4$ definiert ist, so dass

$f^{\prime }(4)=\lim _{x\to 4}d_{f,4}(x)=\lim _{x\to 4}-{\frac {1}{2(x+4)}}=-{\frac {1}{16}}.$

2) Sei $f=(x\mapsto {\sqrt {5-x}})$ und $x_{0}=1.$

$d_{f,1}(x)={\frac {f(x)-f(1)}{x-1}}={\frac {{\sqrt {5-x}}-2}{x-1}}$ für alle $x\in ]-\infty ;5[\setminus \{1\}.$

Man muss nun den Term so umzuformen versuchen, dass er durch $x-1$ kürzbar wird - falls dies überhaupt möglich ist.

Im vorliegenden Fall hilft die Anwendung der 3. binomischen Formel weiter:

$d_{f,1}(x)={\frac {({\sqrt {5-x}}-2)({\sqrt {5-x}}+2)}{(x-1)({\sqrt {5-x}}+2)}}={\frac {(5-x)-4}{(x-1)({\sqrt {5-x}}+2)}}={\frac {-(x-1)}{(x-1)({\sqrt {5-x}}+2)}}$ für alle $x\in ]-\infty ;5[\setminus \{1\}.$

Da hier insbesondere $x\not =1,$ so ist jetzt Kürzung durch $x-1$ möglich:

$d_{f,1}(x)=-{\frac {1}{{\sqrt {5-x}}+2}}$ für alle $x\in ]-\infty ;5[\setminus \{1\},$

wobei der auf der rechten Seite der Gleichung stehende Term auch bei 1 definiert ist, so dass

$f^{\prime }(1)=\lim _{x\to 1}d_{f,1}(x)=\lim _{x\to 1}-{\frac {1}{{\sqrt {5-x}}+2}}=-{\frac {1}{{\sqrt {5-1}}+2}}=-{\frac {1}{4}}.$

Aus den vorstehenden Beispielen wird folgendes allgemeines Vorgehen ersichtlich:

Die Bildung der Ableitung $f^{\prime }(x_{0})$ ist für nicht ganz-rationale Funktionen nur dann möglich, wenn es gelingt, den Differenzenquotienten $d_{f,x_{0}}(x)$ durch $x-x_{0}$ zu kürzen. In einem solchen Fall ergibt sich$\lim _{x\to x_{0}}d_{f,x_{0}}(x)$ als der Wert des gekürzten Terms an der Stelle $x_{0},$ und damit ist dann $f^{\prime }(x_{0})$ gefunden.