Grundvorstellung finden – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

Was sind Grundvorstellungen und was sind sie nicht?

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Was sind Grundvorstellungen?

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Eine Grundvorstellung ist eine inhaltliche Deutung eines mathematischen Begriffs. Sie gibt diesem einen Sinn. Sie tut dies durch Anknüpfen an bekannte Sach- und Handlungszusammenhänge beziehungsweise Handlungsvorstellungen. Grundvorstellungen bauen eine gedankliche Darstellung des Begriffs auf und helfen beim Verinnerlichen. Dies ermöglicht Handlungen auf der Vorstellungsebene. Damit ist eine Grundvorstellung eine Intuition und keine bloße Wiederholung des Formalismus. Sie erklärt, warum etwas intuitiv wahr sein sollte.

Grundvorstellungen bilden eine Grundlage für die Fähigkeit, den Begriff auf reale Situationen anzuwenden. Dies geschieht durch Wiedererkennen einer entsprechenden Struktur im sachbezogenen Kontext oder durch Modellieren eines sachbezogenen Problems mit Hilfe von mathematischen Strukturen. Damit liefern Grundvorstellungen eine Verbindung zwischen dem Formalismus und der Realität.

Aus der Grundvorstellung erhält man mittels der genetischen Methode eine Definition des Begriffs. Dies liefert einen ersten Test, ob die gefundene Vorstellung eine Grundvorstellung ist: Wenn eine Vorstellung nicht oder nur auf unnatürliche Weise zu dem Begriff führt, so ist diese Vorstellung keine Grundvorstellung oder höchstens eine sehr schwache.

Zu einem Begriff kann es mehrere Grundvorstellungen geben. In diesem Fall muss man bewerten, welche Grundvorstellungen für unsere Zielgruppe oder Situation die stärksten sind. Daher sollten die wichtigsten Grundvorstellungen gefunden werden, bevor man weiter macht. Alle gefundenen Grundvorstellungen zusammen sollten (fast) alle Anwendungsfälle des Begriffs oder Konzepts erklären.

Was sind Grundvorstellungen nicht?

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Grundvorstellungen sollten nicht mit anderen Konzepten im Bereich der Begriffserklärung und Planung von Artikeln verwechselt werden. So sind Grundvorstellungen keine Motivation für einen Begriff oder ein Konzept. Genauso ist das Finden von Grundvorstellungen nicht das Gleiche wie die Planung von Artikeln oder übergeordneten Strukturen. Dementsprechend sollten im Gespräch um Grundvorstellungen keine Artikel geplant werden. Grundvorstellungen sind auch keine Bilder oder Veranschaulichungen eines Begriffs. Grundvorstellungen sind umfassender als konkrete Veranschaulichungen. Bilder können zwar dabei helfen, die Grundvorstellung zu vermitteln, ersetzen diese aber nicht.

Beispiele von Grundvorstellungen

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Ableitung einer Funktion

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Es gibt mehrere Grundvorstellungen zur Ableitung einer Funktion  :

  • Ableitung als Tangentensteigung:   ist die Steigung der Tangente des Graphen von   am Punkt  .
  • Ableitung als lokale Änderungsrate:   ist die lokale Änderungsrate von   am Punkt  . Eine Änderungsrate beschreibt dabei, wie stark sich eine Größe bezüglich einer anderen Bezugsgröße ändert.
  • Ableitung als beste lineare Approximation: Jede an einer Stelle ableitbare Funktion kann in einer Umgebung um diesen Punkt gut durch eine lineare Funktion approximiert werden. Die Ableitung entspricht der Steigung dieser linearen Funktion.

Alle diese Grundvorstellungen sind nicht die formale Definition der Ableitung. Ausgehend von diesen Vorstellungen können wir jedoch die Definition herleiten. Es hängt von der Situation ab, welche Grundvorstellungen die stärkste ist.

Determinante eines Endomorphismus

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Bevor wir die Grundvorstellung der Determinante angeben können, muss die Grundvorstellung des Endomorphismus klar sein: Der Endomorphismus   eines Vektorraums   deformiert oder transformiert den Raum  .

Dann ist die Determinante von   ein Maß für die Deformation von   durch den Endomorphismus  .

Diese Grundvorstellung der Determinante macht schon andere mathematische Resultate klar: Die Determinante hängt nur vom Endomorphismus und nicht von einer Wahl der Basis in   ab, obwohl es durch die Definition als Determinante der Darstellungsmatrix so scheint. Die Determinante ist ein Homomorphismus. Das Maß der Verzerrung von   können wir durch multiplizieren der Deformation von   und von   angeben.

Inhalte und Prämaße

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Man kann Inhalte als Funktionen auffassen, die das Messen einer extensiven Größe beschreiben. Ausgehend von dieser Grundvorstellung erhält man Eigenschaften, die ein Inhalt erfüllen sollte: Monotonie, Subadditivität und Additivität. Damit kann man sich überlegen, wie die Definition eines Inhalts lauten sollte. Prämaße sind spezielle Inhalte. Die Grundvorstellung eines Prämaßes ist, dass es ein stetiger Inhalt ist, sich also mit dem Übergang zum Grenzwert bei (monotonen) Mengenfolgen verträgt. Daraus entwickelt man die Sigma-Additivität als definierende Eigenschaft eines Prämaßes.

Wie findet man Grundvorstellungen?

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Es gibt kein Patentrezept für das Finden von Grundvorstellungen. Aber du kannst dir einige Fragen stellen, die dich näher an eine Grundvorstellung eines Begriffs bringen.

Zunächst kannst du dir eine Orientierung verschaffen. Untersuche, wo das neue Konzept in der Mathematik zu finden ist. Was sind die wesentlichen Ideen und Zusammenhänge bei diesem Konzept? Welche Eigenschaften, Relationen oder Verknüpfungen braucht man dafür? Welche Begriffe, Sätze, Verfahren, Gesetze und Denkweisen sind für den Inhalt fundamental?

Du kannst verschiedene Anwendungen des Konzepts betrachten und versuchen das Gemeinsame in ihnen zu finden. Untersuche dabei inner- und außermathematische Anwendungen. Was haben all diese Situationen gemeinsam? Was ist der Zweck des neuen Begriffs? Fasst er Objekte unter einer gewissen Eigenschaft zusammen? Welche Handlungen sind mit dem Konzept verbunden? (Z.B. kann man bei der Stetigkeit den Limes in die Funktion ziehen.)

Aus der formalen Definition versuchst du, die Intuition des Begriffs zu dekonstruieren. Warum hat dieser Begriff einen eigenen Namen? Warum wird er so und nicht anders definiert? Was sind die äquivalenten Definitionen des Begriffs? Was sind die Grundvorstellungen der Konzepte, auf die der neue Begriff in der Definition aufbaut?

Auch eine Recherche kann beim Finden von Grundvorstellungen hilfreich sein. Dafür kannst du online oder in Büchern nach dem Begriff suchen oder andere Leute fragen (Mitstudenten, Tutoren, Profs). Wie erklären andere diesen Begriff? Gibt es mathematikdidaktische Literatur dazu? Findet man Fragen in Foren zu diesem Begriff? Wie stellen sich Experten den Begriff vor?

Du kannst deine eigene Intuition nutzen, um eine Grundvorstellung zu erarbeiten. Dazu hörst du auf dein Bauchgefühl. Wie stellst du dir selbst den Begriff vor? Wie kannst du den Begriff visualisieren? Welches Bild hast du dazu im Kopf?

Welche GV ist die stärkste?

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Oft gibt es mehrere mögliche Grundvorstellungen zu einem Begriff. Dann musst du entscheiden, welche du zur Einführung des neuen Begriffs nutzen möchtest. Es gibt kein Patentrezept, wie man herausfindet, welche die stärkste Grundvorstellung ist, aber die folgenden Überlegungen können dabei helfen.

Überlege dir, welche der Grundvorstellungen am direktesten zur Definition des neuen Begriffs führt. Eine starke Grundvorstellung enthält alle für den Begriff relevanten Aspekte, aber nicht mehr. Mit welcher der Grundvorstellungen kann man am besten eine gute Geschichte finden, die zur Definition des neuen Begriffs führt?

Außerdem sollte eine starke Grundvorstellung möglichst fundamental sein. Das bedeutet, sie sollte erweiterbar sein, ohne zu Widersprüchen zu führen. Zum Beispiel sollte die Grundvorstellung für einen Vektorraum nicht nur im Endlichdimensionalen funktionieren, sondern auch auf den unendlichdimensionalen Fall erweiterbar sein. Du kannst dir überlegen, welche Verallgemeinerungen des neuen Begriffs es gibt. Ist deine Grundvorstellung damit verträglich? Wenn nicht, dann handelt es sich um keine starke Grundvorstellung.

Untersuche, welche der Grundvorstellungen in Anwendungen und Theoremen am häufigsten vorkommt. Eine starke Grundvorstellung sollte erklären, warum wichtige Sätze rund um den neuen Begriff gelten. Das gilt insbesondere für die Anwendungen und Theoreme, die in der jeweiligen Vorlesung unmittelbar folgen.

Du kannst dich außerdem fragen, welche der verschiedenen Grundvorstellungen für die Studierenden des jeweiligen Semesters am einfachsten nachzuvollziehen ist. Je weniger Vorwissen man braucht, um die Grundvorstellung nachvollziehen zu können, desto besser.