Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Zweites Kapitel §§ 5–8

Seinsfrage und Methode der Untersuchung
Thema des zweiten Kapitels ist die Sorge um die richtige Zugangsart zum Phänomen des Daseins. Aufgrund des ontisch-ontologischen Vorrangs des Daseins versteht dieses sich selbst zunächst und zumeist aus der Welt heraus. Dies stellt für Heidegger jedoch ein Problem dar, denn dass Dasein sich „aus der Welt heraus“ versteht, bedeutet, dass die Weltinterpretation des Daseins auf dieses zurückstrahlt. In der Welt findet sich jedoch nur Seiendes, daher tendiert das Dasein dazu, „das eigene Sein aus dem Seiendem zu verstehen“.[1] Wenn aber das Dasein zur Beantwortung der Seinsfrage das zu Befragende ist, so müsse ein möglichst unvoreingenommener Zugang zu ihm gefunden werden, damit sich die existenzialen Strukturen des Daseins möglichst unverstellt zeigen können.[2] Es soll also keine „Idee vom Menschen“ der Untersuchung vorangestellt werden, vielmehr möchte Heidegger von der durchschnittlichen Alltäglichkeit ausgehen, in der sich das Dasein befindet, verhält und versteht. Durch diese Rückbindung an das Alltägliche möchte Heidegger die Philosophie aus dem Feld der Spekulation zurück in das „tatsächliche Leben“ führen.

Erst nachdem von dort her Grundstrukturen des Daseins herausgearbeitet worden sind, schließt sich die Ontologie an. Diese soll dann das Dasein auf die Zeitlichkeit hin interpretieren.[3] Es wird sich später zeigen, dass die Zeitlichkeit ein zum Dasein gehöriges Existenzial ist, welches für das Verstehen von Sein überhaupt die Voraussetzung ist. Damit ist jedoch die Frage nach dem Sinn von Sein noch nicht beantwortet. In einem weiteren Schritt will Heidegger aus dieser Zeitlichkeit des seinsverstehenden Daseins die Zeit als Horizont des Seinsverständnisses ausweisen. Um die zum Dasein gehörende Zeitlichkeit von der zum Sein gehörenden Zeit zu unterscheiden, nennt Heidegger die Zeitlichkeit des Seins Temporalität. Ihr war der in „Sein und Zeit“ nicht enthaltene dritte Abschnitt „Zeit und Sein“ gewidmet. (Eine gleichnamige Schrift Heideggers aus späteren Jahren mit demselben Titel darf nicht damit verwechselt werden.)

Erst durch die Zeitlichkeit des Daseins lässt sich also das Sein verstehen, um dann von dort aus über die Klärung der Temporalität des Seins zu einem neuen Begriff der Zeit zu finden. Auch wenn Heidegger dies nicht durchführte, kann man vermuten, wie dieser neue Zeitbegriff ausgesehen hätte: Dem von Heidegger kritisierten „vulgären Zeitbegriff“, der die Zeit durch Herausstellen aus dem Dasein und Verdinglichen als eine unendliche Abfolge von Jetztpunkten sieht, hätte Heidegger wohl die an das Dasein gebundene – und wegen der Sterblichkeit des Daseins – endliche Zeit entgegengesetzt.[4]

Destruktion der Geschichte der Ontologie
Hier folgt die Einführung für den zweiten Teil von Sein und Zeit, welcher jedoch im Buch selbst nicht mehr ausgeführt wurde.

Das Dasein neigt laut Heidegger nicht nur dazu – gleichsam in seinem gegenwärtigen Selbstverständnis – an die Welt zu verfallen, d. h. sich aus dieser heraus zu verstehen, sondern es steht immer schon in einer der Vergangenheit entspringenden Tradition des Verstehens, es ist seine Vergangenheit. Neben der ‚Weltverfallenheit‘ gibt es also noch eine ‚Traditionsverfallenheit‘.

Heidegger nennt die Einbindung des Menschen in das kulturelle Überlieferungsgeschehen die Geschichtlichkeit des Daseins.[5] Genauso aber wie das Verstehen aus der Welt heraus dem Dasein ein wirkliches Verstehen seiner selbst verdunkelt, so kann dies auch durch die „Herrschaft der Tradition“ geschehen, denn auch diese erlag der Tendenz, sich aus der Welt heraus zu verstehen und ließ, so Heidegger, ihre primären Themen (Subjekt, Ich, Vernunft, Geist, Person) unbefragt auf ihr Sein hin.[6] Deshalb ist zur Klärung der Seinsfrage eine „Destruktion der Geschichte der Ontologie“ nötig, um sich wieder in „den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeit zu bringen“[7] und somit durch die Tradition übernommene Vorurteile und Ideologien erst wieder als solche sichtbar zu machen.

Innerhalb der Tradition soll nun vor allem der zu thematisieren versäumte Zusammenhang von Sein und Zeit betrachtet werden. Dass nach Heidegger bis jetzt die Zeit niemals als wesentlich für die Bestimmung des Seins erkannt wurde, zeigt sich daran, dass Sein stets nur als Vorhandenes gedacht wurde, nämlich als Substanz, Materie, eben als Seiendes. Der zum Substanzdenken gehörende Modus der Zeit ist jedoch die Gegenwart, der die Substanz in ihrer bloßen Präsenz in den Blick bringt. Heidegger wird später versuchen zu zeigen, dass erst durch die Zeit sinnhafte Bezüge zwischen den Dingen in der Welt möglich sind, z. B. sich ein Werkzeug nur dann verstehen lässt, wenn es für einen zukünftigen Hausbau nützlich ist. Um diese grundsätzliche Verfehlung der ontologischen Tradition aufzuweisen, wollte Heidegger drei konkrete Positionen „destruieren“: Erstens sollte Kants Schematismuslehre untersucht werden, um zu zeigen, wie auch er im vulgären Zeitverständnis blieb. Kant wiederum übernimmt nach Heidegger hierbei dogmatisch die Position Descartes'.[8] Dieser hatte mit dem cogito sum einen sicheren Boden für die Philosophie beansprucht, ließ jedoch die Frage nach Seinsart und Seinssinn dieses sum unbeantwortet. Als dritte Station sollte Aristoteles’ Abhandlung über die Zeit untersucht werden, welche alle nachkommenden Zeitauffassungen bestimmt hat, auch die Kants.[9] Die Absicht der Destruktion ist dabei eine positive, da sie erst die Möglichkeit für ein neues Verständnis eröffnet.

Die Phänomenologische Methode der Untersuchung
Heidegger führt seinen Phänomenbegriff anhand einer etymologischen Auslegung der griechischen Begriffe phainomenon als „das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende“ und logos als Sehenlassen aus, was zusammen ein „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ ergibt. Wichtiger ist ihm jedoch, was auf diese Art sichtbar gemacht werden soll: „Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht' zeigt (…)“,[10] womit Heidegger das Sein meint. Zeigen tut sich ja nur das Seiende, das Sein als Verständnishorizont wird jedoch nicht explizit. So wie sich auch im Gegebenen nicht das Geben und der Gebende zeigen, sondern unthematisch bleiben. Um aber das aufzuzeigen, was sich zunächst nicht zeigt, braucht es die Hermeneutik, welche Heidegger mit der Phänomenologie verbindet. Die Hermeneutik soll das Verdeckende (der Gegenbegriff zu Phänomen) aufweisen und benennen. Dies geschieht dadurch, dass sie die Motive dafür aufdeckt, warum etwas in der Verborgenheit bleibt, also warum Dasein seinsvergessen ist. Eines dieser Motive liegt für Heidegger in der Flucht des Daseins vor sich selbst – eine Flucht, die der Furcht davor, sein eigenes Sein zu ergreifen, entspringt. Mit dieser Auffassung der Hermeneutik als Motiv-Freilegung unterscheidet sich Heidegger von einer Hermeneutik, die den Zugang zur Welt allein als einen Akt der Interpretation beschreibt. Heidegger hält sich somit durchaus die Möglichkeit eines direkten Zugangs zu den Sachen offen.[11]

Einzelnachweise

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  1. SZ, Seite 15
  2. SZ, Seite 16
  3. SZ, Seite 17
  4. Vgl. Jean Grondin: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion. In: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 17
  5. SZ, Seite 20
  6. SZ, Seite 22
  7. SZ, Seite 21
  8. SZ, Seite 24
  9. SZ, Seite 26
  10. SZ, Seite 35
  11. Vgl. Jean Grondin: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion. In: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 24