Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Sechstes Kapitel §§ 78–83

Ursprung des vulgären Zeitbegriffs
Was noch aussteht ist eine Analyse der Zeit (nicht Zeitlichkeit), dies vor allem deshalb, weil wir täglich mit ihr rechnen, weil sie Grundlage für die Wissenschaften von Geschichte und Natur ist.[1] Die Zeit wird sich hierbei als ein besonderer Umgang des Daseins mit der Zeitlichkeit erweisen. Zu zeigen ist der Ursprung der Zeit aus der Zeitlichkeit des Daseins. Da hierbei gewisse Parallelen zu Hegel deutlich werden, wird auf dessen Zeitbegriff gesondert eingegangen – auch um den Heideggerischen besser hiervon abzugrenzen.[2]

Das Besorgen von Zeit
Der besorgende Umgang mit der Welt gründet in der Zeitlichkeit des Daseins. Dies spricht sich aus, so z. B. im dann – soll das geschehen, zuvor – jenes, jetzt dieses und so weiter. Die Bezugsstruktur dahinter nennt Heidegger Datierbarkeit. Es muss der Frage nachgegangen werden, worin Datierbarkeit gründet und auf was sie sich bezieht (Zeitpunkte?). Offensichtlich, so Heidegger, ist Datierbarkeit nur möglich, weil das Dasein sich in der Aussprache des jetzt, dann und zuvor immer schon selbst mit ausspricht. Das heißt, in der Aussprache der Datierbarkeit findet eine Selbstauslegung des Daseins statt. Diese ist möglich, weil die Welt dem Dasein immer schon erschlossen ist und weil die Zeitlichkeit des Daseins das Da lichtet. Damit ist die Datierbarkeit der Widerschein der Zeitlichkeit des Daseins, denn die Struktur der Datierbarkeit bildet die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins ab.[3] Im Datieren fassen wir die Zeit außerdem als gespannte auf, als Zeitspanne. Die erlebte Zeit ist kein bloßer Fluss von Jetzt-Punkten, sondern bestimmt sich aus dem Besorgten. Dabei verliert der Unentschlossene seine Zeit an das Besorgte, hingegen kann der Entschlossene keine Zeit verlieren, weil er sich im Augenblick hält. Im alltäglichen Besorgen hat die Zeit den Charakter der Öffentlichkeit.[4]

Öffentliche Zeit

Wenn man sich nach der öffentlichen (ausgesprochenen) Zeit richtet, so muss diese offensichtlich in irgendeiner Form vorfindlich sein. Die Veröffentlichung der Zeit geschieht vor allem in der Zeitrechnung. Dabei muss Zeitrechnung noch nicht eine Quantifizierung von Zeit beinhalten. Die Geworfenheit des Daseins ist der Grund dafür, dass es als Verfallenes öffentliche Zeit ausbildet. So versteht sich das Dasein als Verfallenes zunächst aus der Welt. Im täglichen Besorgen ist der Wechsel von Tag und Nacht die erste zeitliche Orientierung für das Dasein.[5] Es ergibt sich das erste Zeitmaß, der Tag. Dieser kann weiter unterteilt werden, je nach Sonnenstand. Es ergeben sich dann Zeitangaben, welche für jedermann zugänglich sind, ein Zeitmaß. Im Maß liegt schon die Idee der Messung und somit eines Zeitmessers, der Uhr. Die Entdeckbarkeit des Zeitmaßes und seine Notwendigkeit für das Besorgen gründen in der Zeitlichkeit des Daseins.[6]

Bei genauerer Analyse der öffentlichen Zeit zeigt sich: diese beinhaltet stets eine gewisse Ausgelegtheit. Sie implizierte eine Wenn-Dann-Struktur, das heißt, wenn es soviel Uhr ist, dann ist es günstig oder ungünstig dieses oder jenes zu tun. Damit spiegelt die Wenn-Dann-Beziehung die Bedeutsamkeit der Welt wider und somit die Weltlichkeit der Welt. Deshalb gibt Heidegger der öffentlichen Zeit, der besorgten Zeit den Titel Weltzeit. Die Weltzeit geht somit nicht aus einem verdinglichten Zeitverständnis hervor, sondern da sie mit der Weltlichkeit der Welt verwoben ist gehört sie zur Welt.[7]

Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, die Zeit abzulesen? Offensichtlich gibt es verschiedene Stufen, in welchen die Zeitmessung verfeinert werden kann. Vom Tag über die Tageszeit gibt es verschiedene Methoden der Erfassung: Heidegger nennt die Bauern- und die Sonnenuhr. Allerdings findet sich nirgends auf der Sonnenuhr die Zeit: weder im Schatten noch zwischen den eingeteilten Bahnen. Das Zeitablesen, die Datierung, lässt sich somit nur als Gegenwärtigen eines Vorhandenen bestimmen; es ist wesenhaft ein Jetzt-Sagen, wobei dieses Jetzt schon durch die Zeitlichkeit des Daseins verstanden und ausgelegt ist.[8] Zeit gibt es immer nur im Bezug zu uns, die wir wesenhaft zeitlich sind, wir entdecken sie nicht erst in der Welt als von uns unabhängig, wohl aber messen wir sie mit in der Welt Vorhandenem, dies so, dass wir im Messen erfassen, wie oft ein Maßstab in eine vorgegebene Strecke passt (wie oft er anwesend ist). Da, wie weiter oben gezeigt, der Raum erst durch die Zeitlichkeit konstitiuiert wird, findet sich auch die besorgte Zeit nicht in ihm, wohl aber muss sie als öffentliche in ihm bei Gegenwärtigen eines Vorhandenem (z. B. einer Uhr) vorfindlich werden. Somit ist außerdem gezeigt, dass die Zeitmessung nicht auf Raumstrecken basiert (wie Bergson glaubt), sondern diese nur benutzt als Ausprägung der Zeitlichkeit des Daseins.[9]

Zur Frage ob die Zeit nun subjektiv oder objektiv sei, ist zu sagen: sie ist nicht objektiv in dem Sinne, dass sie an sich vorhanden wäre. Auch ist sie nicht subjektiv im Sinne eines Kantischen Subjekts. Sie ist jedoch objektiv als Bedingung der Möglichkeit von Welt überhaupt, ebenso ist sie subjektiv in dem Sinne, dass sie das Sein als Sorge und damit das Selbst erst möglich macht.[10]

Genesis des vulgären Zeitbegriffs
Wie gezeigt wurde, richtet sich das alltägliche Besorgen nach der Zeit. Dies tut es, indem es mit der Zeit rechnet: die Uhr ist der Zeitrechner und im Gegenwärtigen des Zeigers zählt das Dasein die Zeit. Dabei besteht dieses Zählen im Jetzt-Sagen, welches sich zugleich für den Horizont des Früheren und Späteren (des kommenden und gehenden Jetzt) offen hält. Zeit wird somit zum Gezählten. Diese Definition entspricht der des Aristoteles: „Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont des Früher und Später begegnenden Bewegung“.[11] Allerdings wurde für Aristoteles der Ursprung der Zeit (also die Zeitlichkeit) nicht zum Problem.

Was sich im Zählen zeigt, ist ein Verständnis der Zeit als bloßes Jetzt, weshalb Heidegger die gezählte Zeit die Jetzt-Zeit nennt. In ihr zeigt sich eine Zeitauffassung, welche die Zeit als Fluss von vorhandenen Jetzt-Punkten auffasst. Damit aber fehlt der Weltzeit die ihr wesentliche Struktur von Datierbarkeit und Bedeutsamkeit: Ihre ekstatisch-horizontale Struktur wird nivelliert.[12] Wenn dem Verstehen ein solch nivillierter und nackter Zeitbegriff zu Grunde liegt, dann werden hierdurch auch andere Phänomene wie Welt, Bedeutsamkeit und Datierbarkeit verdeckt werden. Zusätzlich bekommt die Zeit die Eigenschaften des Vorhandenen: Die Jetzt-Punkte lassen sich in immer kleinere Abschnitte teilen – dies unendlich oft – und es stellt sich die Frage nach der Kontinuität der Zeit, wenn erst einmal ihre Gespanntheit verdeckt wurde. Zeit wird zur Jetzt-Folge ohne Anfang und Ende (es lässt sich immer noch ein Jetzt mehr hinzu denken). Durch diesen Charakter eines an sich vorhandenen Jetzt-Ablaufs entsteht der Gedanke einer unendlichen Zeit. Grund für diese Nivellierung sieht Heidegger in der Flucht vor dem Sein zum Tode, wodurch von der Ekstase der Zukunft abgesehen wird, und so auch von der eigentlichen Zeitlichkeit insgesamt.[13] Dies schlägt sich im Gerede nieder: Man hat bis zum Ende noch Zeit, welche man sich nehmen kann und wenn man tot ist, so wird die Zeit auch ohne einen weiter gehen.

Heidegger räumt der vulgären Zeit allerdings ein gewisses Recht ein, da sie uns im alltäglichen Umgang geläufig ist. Allein, sie darf nicht beanspruchen der wahre Zeitbegriff zu sein. Die vulgäre Zeit ist erst aus der Zeitlichkeit entsprungen, daher die Zeitlichkeit ursprünglicher ist.[14] Das bedeutet aber auch, dass sich die Begriffe der vulgären Zeit und der Zeitlichkeit nicht decken: Das Jetzt und der Augenblick, die vulgäre und die ekstatische Zukunft, die Vergangenheit und die Gewesenheit sind grundsätzlich verschiedene Formen des Zeitverständnisses.

Abgrenzung zu Hegel
Zum besseren Verständnis des Zeitphänomens gibt Heidegger noch eine Abgrenzung zum Zeitverständnis Hegels. Für Hegel ist der Geist in der Zeit, jedoch stellt sich die Frage, was ihm ermöglicht in die Zeit zu fallen.

  • Hegels Begriff der Zeit

Seinen Zeitbegriff entwickelt Hegel in der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften unter dem Abschnitt Philosophie der Natur (Seite 429). Hegel stellt zunächst Raum und Zeit nebeneinander, um anschließend zu zeigen, dass der Raum sich, richtig gedacht, als Zeit enthüllt. Raum ist für Hegel die Vielheit der Punkte. Die bloße Anschauung eines Punktes erfasst jedoch noch nicht das Sein des Raumes, dies erst wenn er durch das Denken, also durch These, Antithese hindurch gegangen und in der Synthese aufgehoben ist. Erst aber in der Negation der Negation setzt sich der Punkt dann für sich, in Abgrenzung (Außersichsein) zu anderen Punkten. Dies ist dann die Zeit: „Weil sonach das reine Denken der Punktualität, das heißt des Raumes, je das Jetzt und das Außersichsein der Jetzt denkt, ist der Raum die Zeit“.[15] Zeit ist dann das angeschaute Werden, welches sich aus der Jetzt-Folge darbietet. Damit wird Zeit wieder aus dem Jetzt verstanden, es handelt sich also auch hier um eine nivellierte Zeit ohne einen ekstatischen Horizont. Hegel sagt: „Das Jetzt hat ein ungeheures Recht, – es ‚ist‘ nichts als das einzelne Jetzt (…)“.[16] Es wird sich zeigen, dass Hegel diesen vulgären Zeitbegriff benötigt, um den Zusammenhang von Geist und Zeit herzustellen.

  • Der Zusammenhang von Geist und Zeit bei Hegel

Das Wesen des Geistes ist der Begriff, das heißt, das sich Begreifen als Erfassen des Nicht-Ich (die Negation der Negation).[17] Die dem Geist innewohnende Unruhe bewirkt ein Prinzip der Ausschließung, aber auch der Überwindung. Dieser Fortschritt hat das Ziel, seinen eigenen Begriff zu erreichen. Die Unruhe fällt allerdings in die Zeit: Das Ausschließen meint ein Nicht-Sein als das was jetzt nicht mehr ist, zumindest so lange, bis der Geist sich erfasst, also die Zeit tilgt. Damit sind zwar Zeit und Geist einerseits ähnlich (als Negation der Negation), weil aber die Zeit nivellierte Weltzeit ist, steht der Geist ihr auch gegenüber – damit sie zusammenkommen, muss er in sie fallen.[18]

Schlusswort (§ 83)
Heidegger sieht seine Untersuchung nicht als die letzte Antwort auf alle gestellten Fragen, sondern als eine erste Annäherung. Für ihn bleibt vor allem das weitere Fragen wichtig. Sein und Zeit stellt einen Teil des Weges dar. Ziel bleibt die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt.

Einzelnachweise

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  1. Vgl. SZ, Seite 404
  2. Vgl. SZ, Seite 405
  3. Vgl. SZ, Seite 408
  4. Vgl. SZ, Seite 411
  5. Vgl. SZ, Seite 412
  6. Vgl. SZ, Seite 413
  7. Vgl. SZ, Seite 414
  8. Vgl. SZ, Seite 416
  9. Vgl. SZ, Seite 418
  10. Vgl. SZ, Seite 419
  11. Vgl. SZ, Seite 421
  12. Vgl. SZ, Seite 422
  13. Vgl. SZ, Seite 424
  14. Vgl. SZ, Seite 426
  15. Vgl. SZ, Seite 430
  16. Vgl. SZ, Seite 431
  17. Vgl. SZ, Seite 433
  18. Vgl. SZ, Seite 435