Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Fünftes Kapitel §§ 72–77
Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit
Um die Frage nach dem Sinn von Sein zu beantworten, muss das Phänomen umgrenzt werden, in dem selbst so etwas wie Sein zugänglich wird, also das Seinsverständnis. Um es ganz in den Blick zu bringen, muss zuvor die Seinsverfassung des Daseins gänzlich geklärt werden.[1] Zwar wurde es in Hinblick auf seine Ganzheit als Sein zum Tode bestimmt, jedoch ist diese Bestimmung gewissermaßen einseitig, da sie das Daseins nicht in die andere Richtung – hin zu seiner Geburt – verfolgt. Das Dasein ist gewissermaßen das Zwischen Geburt und Tod, jedoch bleibt die Frage wie es sich dazwischen erstreckt: Wie also ist der Zusammenhang des Lebens möglich? Eine bloße Abfolge von Erlebnissen kann es nicht sein, denn dann wäre immer nur ein Augenblick wirklich, ohne dass diese miteinander in Verbindung stünden. Ein solches Verständnis impliziert nur wieder eine Auffassung des Daseins als Vorhandenes (Seite 373). Vielmehr aber erstreckt sich Dasein selbst zwischen Geburt und Tod: Beide sind solange Dasein ist und da das Sein des Daseins als Sorge bestimmt wurde, diese aber in der Zeitlichkeit gründet, sind auch Geburt und Tod nur durch die Zeitlichkeit des Daseins möglich. Dieses Sich-Erstrecken des Daseins nennt Heidegger das Geschehen. Es wird sich als wesentlich für die Geschichtlichkeit des Daseins erweisen.[2] Geschichtlichkeit ist jedoch nicht die Historie als Wissenschaft von der Geschichte. Ihre Aufhellung soll sich im Folgenden dadurch vollziehen, dass zunächst der vulgäre Begriff von Geschichte geklärt wird, anschließend soll ihre Verwurzelung in der Zeitlichkeit aufgewiesen werden. Abschließend wird die Herkunft der Wissenschaft von der Geschichte aus der Geschichtlichkeit gezeigt.[3]
Das vulgäre Geschichtsverständnis
Zunächst wollen wir Geschichte nur als das auffassen, was geschehen ist und den Bezug des Worts auf die Wissenschaft der Geschichte außer Acht lassen. Der Begriff tritt dann in verschiedenen Verwendungen auf. Geschichte ist dann:
- Bezug auf Seiendes, das vergangen ist
- Herkunft im Sinne von Geschichte haben
- das, was den Menschen betrifft und sich in der Zeit wandelt (als Gegensatz zu Naturabläufen in der Zeit)
- das, was überliefert wird
Es bleibt dann aber die Frage, ob das Dasein geschichtlich ist oder erst durch Eintreten in besondere Umstände geschichtlich wird.[4] Ebenso bleibt das offensichtliche Primat der Vergangenheit zu untersuchen. Da das Dasein zeitlich ist, soll an diesem letzten Punkt angesetzt werden, mit der Frage: was heißt vergangen?
Als erläuterndes Beispiel wählt Heidegger die museale Präsentation von alten Gebrauchsgegenständen (Zeug). Diese sind sicherlich von geschichtlicher Bedeutung, jedoch sind sie nicht vergangen. Offensichtlich haben sie sich in irgendeiner Form verändert. Was sich jedoch genau verändert hat, das ist die Welt, in welche sie eingebunden waren, genauer: die Welt in welcher sie zum Zeugzusammenhang gehörten ist vergangen. Welt aber ist nur, solange Dasein ist. Dasein kann also nicht vergehen, wir sagen es ist da-gewesen. Damit ergibt sich für den Geschichtscharakter der alten Gebrauchsgegenstände: „Die noch vorhandenen Altertümer haben einen Vergangenheits- und Geschichtscharakter auf Grund ihrer zeughaften Zugehörigkeit zu und Herkunft aus einer gewesenen Welt eines da-gewesenen Daseins. Dies ist das primär Geschichtliche“.[5] Sekundär geschichtlich ist also das innerweltlich Begegnende. Heidegger nennt es das Welt-Geschichtliche in bewusster Anspielung auf Weltgeschichte[6], deren Herkunft er in § 75 aus der Orientierung am Innerweltlichen zeigt.
Die Grundverfassung der Geschichtlichkeit
Es gilt zu zeigen, dass Geschichte nur auf dem Grund von Geschichtlichkeit möglich ist. Da das Dasein zeitlich ist, wird das Problem im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit betrachtet werden müssen. Heidegger nimmt hierbei seinen Ausgang von der eigentlichen Zeitlichkeit und entwirft eine Vorstellung von eigentlicher und uneigentlicher Geschichtlichkeit. Im darauffolgenden Paragraphen 76 wird er diese auf die Wissenschaft von der Geschichte beziehen und kommt so zu einer Auffassung von eigentlicher und uneigentlicher Historie.
Wenn das Dasein seine Eigentlichkeit in der vorlaufenden Entschlossenheit gewinnt, und sich im Entwurf auf sein eigenstes Seinkönnen hin entwirft, dann bleibt die Frage, woher es überhaupt die Möglichkeiten schöpfen kann, auf die es sich entwirft. Heidegger antwortet: „Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sein Selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt“.[7] Damit konstituiert sich in der Entschlossenheit das Überliefern des Erbes. Nur so aber kann das Dasein den nichtigen Dingen entgehen und kommt in die Einfachheit seines Schicksals. Da Dasein immer mit Mitsein einhergeht, gibt es ein Mitgeschehen mit anderen. Dies ist das Geschehen einer Gemeinschaft, eines Volkes, welches Heidegger als das Geschick bezeichnet. [8]
Schicksal ist für Heidegger das eigentliche Geschehen, indem sich das Dasein an eine ererbte Möglichkeit überliefert. Nur aber wenn das Dasein zukünftig ist, zum Tode ist, dann ist es in der eigentlichen Zeitlichkeit. Und nur so ist auch eigentliche Geschichtlichkeit möglich.[9] Dasein entwirft sich dann in der Wiederholung auf eine Daseinsmöglichkeit einer da-gewesenen Existenz: Das Dasein wählt sich seine Helden. Dabei soll es nicht bloß nachmachen, was bereits jemand getan, sondern es erwidert die dagewesene Existenz. Damit überlässt sich die Wiederholung weder dem Vergangenen, noch zielt sie auf einen Fortschritt (Seite 386). Mit dieser Nachfolge geht eine Treue zum Wiederholbaren einher und doch liegt ihre Bestimmung in der Zukunft, auf die hin sich das Dasein entwirft. Insgesamt ist damit klar geworden, dass nur auf dem Grund der Zeitlichkeit des Daseins Geschichtlichkeit möglich ist, der Ekstase der Zukunft kommt dabei die Bedeutung zu, dass sie das Dasein im Sein zum Tode erst eigentlich geschichtlich werden lässt.
Weltgeschichte
Wenn immer noch die Frage offen ist, wie das Dasein zwischen Geburt und Tod zusammenhängt und wie es überhaupt mit der Geschichte zusammenhängt, dann muss man der Vermutung nachgehen, ob diese Frage nicht in einem falschen Verständnis von Geschichtlichkeit, in der uneigentlichen Geschichtlichkeit gründet.[10].
Der Lebenszusammenhang ließe sich zwar durch das alltägliche Besorgen im Handel und Wandel beschreiben, aber damit wären wieder eine Subjekt-Objekt-Beziehung gedacht, deren Verkettung zwischen Subjekt und Objekt unbestimmt bliebe. Für Heidegger ist das Geschehen der Geschichte das Geschehen des In-der-Welt-Seins. Somit geschieht auch immer schon Geschichte, solange nur Dasein ist. Auch das Innerweltliche ist stets schon mitgemeint, da dem Dasein immer schon Innerweltliches begegnet. Wir haben dieses Innerweltliche das Welt-Geschichtliche genannt. Hiermit ist zweierlei gemeint: das Geschehen von Welt, sowie das innerweltliche Geschehen von Vor- und Zuhandenem. (Wird zum Beispiel ein Ehering weitergegeben, dann geschieht dabei sehr viel mehr, als bloß eine Ortsverschiebung des vorhandenen Dings).[11]
Weltgeschichtliches ist somit je schon da, wird aber durch das verfallene Dasein fälschlich als Ankommendes, Anwesendes und Verschwindendes aufgefasst. Aus diesem errechnet es dann seine Geschichte und nur so erst ergibt sich die falsche Frage nach dem Zusammenhang von Dasein und Geschichte.
Im Gegensatz zur Zerstreuung in der Uneigentlichkeit, wird die eigentliche Geschichtlichkeit durch Selbstständigkeit, Schicksalhaftigkeit, Entschlossenheit und Wiederholung bestimmt. Die Treue der Existenz gilt dem eigensten Selbst, ihre einzige Autorität ist die wiederholbare Möglichkeit. Damit geht eine Ehrfurcht vor der wiederholbaren Möglichkeit einher. Das Man hingegen weicht der Wahl aus, versteht die Vergangenheit immer nur aus der Gegenwart, indem es ihr seine Interpretation aufzwingt. Die uneigentliche Existenz sucht das Moderne, wohingegen die eigentliche Geschichtlichkeit die Geschichte als Wiederkehr der Möglichkeiten versteht.[12]
Der Ursprung der Historie
Da das Dasein immer geschichtlich ist, bleibt auch das Betreiben von Wissenschaft allgemein in der Geschichte verwurzelt. Vorzüglich gilt dies aber für die Wissenschaft der Geschichte, die Historie. Die Erschließung von Geschichte ist also geschichtlich verwurzelt. Damit stammt auch die Idee der Historie (also das, was diese Wissenschaft sein soll) aus der Geschichtlichkeit des Daseins. Die Idee ist die Erschließung des Seienden, sie wird in der Thematisierung konkretisiert und auf eine Region begrenzt, hier: das Vergangene. Damit dies überhaupt zugänglich werden kann, muss es in irgendeiner Form immer schon erschlossen sein, was nichts anderes heißt, als dass das Dasein geschichtlich sein muss, um seine Vergangenheit zu erschließen.[13]
Was heißt dann aber eigentliche Historie? Eigentliche Historie hat das Mögliche zum Thema. Weder also das Einmalige (bloß Empirische) noch das Allgemeine (Abstrahierte) ist ihr Thema. Sie schöpft aus der Kraft der Möglichkeit, als etwas, das sich in der Wiederholung wiedererwecken lässt. Somit ist auch die Auswahl der Wiederholung durch das Zukünftige bestimmt. Sie ist sozusagen gelebte Historie. Nur so aber ist sie einzig objektiv, wenn sie für uns von Bedeutung ist. Und nur deshalb erst können ihr einzelne Tatsachen wichtig werden und nur daher hat es Sinn, dass sie sich in verschiedene Unterdisziplinen aufspaltet.[14] Forschung kann dann sehr unterschiedlich aussehen und nicht jeder der viel weiß, ist schon eigentlich geschichtlich. Umgedreht kann jemand, der nur Quellen editiert, eigentlich geschichtlich sein. Auch der Historismus kann ebenso ein Zeichen dafür sein, dass die Historie das Dasein von seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden trachtet. Heidegger knüpft hier an Nietzsche an, welcher die Historie in der zweiten Unzeitgemäßen (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) dreifach unterteilt hatte in monumentalische, antiquarische und kritische Historie. Die eigentliche Historie findet ihre Entsprechung in der Einheit dieser drei, so dass sie in der entschlossenen Wiederholung monumentalisch ist, sie durch das Monumentalische das Dagewesene verehrt, also antiquarisch ist und letztlich diese beiden sie zur Kritik an der Gegenwart bemächtigen.[15]
Geschichte bei Dilthey und dem Grafen von Yorck
In § 77 geht Heidegger auf die Geschichtsvorstellung Diltheys und des Grafen von Yorck ein, von welchen er grundlegende Anregungen für seine fundamental-ontologische Analyse der Geschichtlichkeit erhalten hat. Diltheys Forschungsarbeit teilt Heidegger in drei Bereiche: 1) Eine Theorie der Geisteswissenschaften in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften 2) Forschungen über Gesellschaft und Staat 3) Entwicklung einer Psychologie, welche die ganze Tatsache Mensch berücksichtigt.[16] Ziel war es sonach für Dilthey, den Menschen und sein Leben zu verstehen, wie sie sind, Mittel hierzu waren die Hermeneutik, die Selbstbesinnung und die Analyse. In enger Freundschaft mit dem Grafen von Yorck fand ein Teil dieser Auseinandersetzung im Briefwechsel der beiden statt. Yorck korrigiert hier Dilthey, indem er die „generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem“ betont. Damit meint er, dass die bisherige Geschichtswissenschaft sich zu sehr an die Gestalt klammert, die Dinge nur der Form nach behandelt, aber nicht in sie eindringt. Sie kennt keine Charaktere.[17] Sie klebt an der Form, weil sie sich zu sehr an die Methoden der Naturwissenschaften anlehnt. Allein, so Yorck, diese Sicht der Dinge ist auch wieder ein historisches Produkt, sie führt zu Entfremdung des Menschen von sich selbst. Daher fordert er mehr Kritik in der Historie, da Kritik allein Lebendigkeit sicherstelle. Yorck: „Geschichte ist nicht [ontisch], sondern sie lebt [historisch]“.[18] Erst die Selbstbesinnung lässt einen sich historisch bestimmt finden und so kann auch die Philosophie nicht von der Geschichte abstrahieren.
Praktische Abzweckung dieses Begriffs von Historie ist die Pädagogik, aber nicht in krampfhafter Form einer Ethik als Wissenschaft, sondern es soll ein neues, wahres Verstehen geschaffen werden, welches sich aus einem Erleben erhebt. Erlebtes kann aber nicht ohne weiteres versprachlicht werden, daher hat die Philosophie mit Recht ihre eigene Sprache, mit der sie versucht, das Erlebte exoterisch darzustellen. Ein solch neues Verständnis von Geschichte ist das Ziel der Lebensphilosophie.[19]
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Vgl. SZ, Seite 372
- ↑ Vgl. SZ, Seite 375
- ↑ Vgl. SZ, Seite 376
- ↑ Vgl. SZ, Seite 379
- ↑ Vgl. SZ, Seite 380, unten
- ↑ Vgl. SZ, Seite 381
- ↑ Vgl. SZ, Seite 383
- ↑ Vgl. SZ, Seite 384
- ↑ Vgl. SZ, Seite 385
- ↑ Vgl. SZ, Seite 387
- ↑ Vgl. SZ, Seite 4
- ↑ Vgl. SZ, Seite 391
- ↑ Vgl. SZ, Seite 393
- ↑ Vgl. SZ, Seite 395
- ↑ Vgl. SZ, Seite 397
- ↑ Vgl. SZ, Seite 398
- ↑ Vgl. SZ, Seite 400
- ↑ Vgl. SZ, Seite 401
- ↑ Vgl. SZ, Seite 403