Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Erstes Kapitel §§ 9–11
Thema der existenzialen Analytik
In der Einleitung wurde als nächste Aufgabe die existenziale Analytik des Daseins festgehalten. Dasein ist jedoch nicht bloß Vorhandensein, sondern es ist Seiendes, dem es in seinem Sein um sich selbst geht. Die Tatsache, dass es dem Dasein in seinem Sein um sich selbst geht, nennt Heidegger Jemeinigkeit. In dieser gründen die „Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“,[1] auf welche in späteren Kapiteln eingegangen wird. Während der überlieferte Terminus der existentia eine bloße Vorhandenheit anzeigt, möchte Heidegger seinen Gebrauch von Existenz im Sinne des Lebensvollzugs hiervon klar abgrenzen. Existenz meint vor allem „mögliche Weisen zu sein“.[2] Deshalb identifiziert Heidegger Wesen mit Existenz: „Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz“. In diesen Möglichkeiten, die das Dasein ist, kann es sich selbst wählen – etwas, das bloß Vorhandenem nicht zukommt. Diese zwei Seinsarten sind grundverschieden: „Seiendes ist also ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im weitesten Sinne).“[3] Die das Dasein in seinem Lebensvollzug bestimmenden Momente nennt Heidegger Existenzialien, um sie von den ontologischen Kategorien für das Vorhandene abzugrenzen.[4] Diese Einteilung gibt eine erste Vorahnung auf die Frage „was der Mensch sei“. Sie soll auch zeigen, dass die Antwort vor jeder humanwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie, liegt – es ist eben eine fundamental ontologische Untersuchung. Im Folgenden nimmt Heidegger die Abgrenzung zu diesen anderen Untersuchungen vor.
Abgrenzung gegen andere Disziplinen
Für Heidegger verfehlen alle diese Untersuchungen die Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“. Vor allem tut dies laut Heidegger ein Ansatz, welcher von einem zunächst gegebenen Ich oder Subjekt ausgeht, wie er sich aus der an Descartes anschließenden Tradition ergibt.[5] Auch die Lebensphilosophie verfehlt das Wesen des Daseins, da ihr das Leben nicht ontologisch zum Problem wird.[6] Die Versuche Husserls und Max Schelers, das Dasein durch die Person bzw. einen Personalismus zu greifen, stoßen an dieselbe Grenze, wenn sie nicht die Seinsart der Person thematisieren.[7] Die traditionelle Philosophische Anthropologie hat selbst in ihren zwei Kernthesen ein Bild des seienden Mensch als Vorhandensein. Sie verfehlt damit nach Heidegger den Vollzugscharakter des Lebens, da ihre Bestimmung des Menschen als animal rationale und andererseits ihre Idee des Menschen als ein Wesen, welches über sich hinaus geht, noch im Vorhandensein wurzelt.
Ebenso ist die Psychologie ohne ontologisches Fundament, welcher Mangel sich auch nicht durch die Zunahme von biologischen Erkenntnissen beheben lässt, denn die Seinsart des Lebens ist nur dem Dasein zugänglich, d. h. die Biologie als Wissenschaft ist wiederum in der Ontologie des Daseins fundiert.[8]
Abschließend verwehrt sich Heidegger auch dagegen, eine Daseinsanalyse von einer im anthropologischen Sinne primitiven Daseinsstufe (primitiven Völkern) ausgehen zu lassen. Zwar mögen hier die Phänomene weniger kompliziert und verdeckt sein; das empirische Material hierzu wird jedoch vor allem durch die Ethnologie zur Verfügung gestellt, dieser Wissenschaft müsste aber selbst schon eine Analytik des Daseins vorausgehen.[9]
Zwar lässt sich für das Dasein die ontologische Problematik leicht von der ontischen Forschung abgrenzen, schwieriger ist jedoch die Ausarbeitung der Idee eines „natürlichen Weltbegriffes“. Dies soll im nächsten Kapitel geschehen.