Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Erstes Kapitel §§ 46–53

Das Sein zum Tode und die Ganzheit des Daseins
Offensichtlich ist es problematisch, die Ganzheit des Daseins als Sorge zu fassen, da Sorge gerade durch das Sich-vorweg-Sein charakterisiert wird. Somit steht das Dasein wesentlich in einer Unabgeschlossenheit: es steht immer etwas aus. Erst mit dem Tod steht nichts mehr aus. Die Behebung des Ausstehenden mit dem Tode ist jedoch keine Vervollständigung des Daseins, sondern das Ende des Daseins. Im Tod fallen also zwei Dinge zusammen: einerseits ist alles verwirklicht, das Dasein ist „ganz“, andererseits steht nichts mehr aus, das Dasein ist gänzlich zu Ende.[1].

Wenn der Tod jedoch das Ende bedeutet, dann kann er nicht erfahren werden. Ein denkbarer Ausweg aus diesem Problem wäre, die Ganzheit des Daseins im Tode über den Tod Anderer zu erfahren. Dies wird jedoch von Heidegger zurückgewiesen. Zwar können im Mitsein (mit Anderen) bewegende Erfahrungen gesammelt werden, jedoch wird hierdurch der Tod niemals als der meine zugänglich[2]. Dies liegt an der Unvertretbarkeit des Todes: Die Anderen können das Dasein in vielen Dingen des Lebens vertreten, aber keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen[3]. Zwar machen wir Erfahrungen mit dem Tod Anderer im Übergang vom Dasein zum vorhandenem Körperding (der Leiche), aber dies läßt nicht den eigenen Tod erfahren. Auch die Erfahrung des eigenen Todes wäre jedoch eigentlich nur eine Erfahrung des Prozesses des Sterbens. Um den Tod als Tod und nicht als Sterben in den richtigen Blick zu bekommen, beginnt Heidegger daher mit einer grundlegenden Analyse von Ende und Ganzheit.

Versucht man, das Ganze des Daseins in den Blick zu bekommen, so hat sich als Problem vor allem das mit der Sorge einhergehende Noch-nicht (dass immer etwas zu tun bleibt) erwiesen. Heidegger untersucht daher den Charakter dieses Noch-nicht. Dabei zeigt er, dass es sich wohl nicht um einen „Ausstand“ handeln kann, denn ausstehen können z. B. Zinszahlungen oder sonstiges Fehlendes eines Zuhandenen, so nämlich, dass es noch nicht zusammen ist[4]. Dies betrifft aber zwei Teile die zunächst voneinander getrennt sind. Hingegen gilt für das Noch-nicht des Daseins: Es gehört zum Dasein: Dasein wird dieses Noch-nicht. Heidegger gibt das Beispiel einer Frucht, die im Werden zur Reife kommt. Hierbei werden ihr nicht Stücke summativ angefügt, sondern sie kommt durch sich selbst zur Reife. Ähnlich haben wir auch das Noch-nicht des Daseins zu verstehen: das, was es noch nicht ist, muss es selbst werden, kann ihm also nicht einfach zugesetzt werden. Es bleibt allerdings ein Unterschied: Die Frucht vollendet sich im Ende, während wir vom Ende des Daseins im Tode nicht behaupten können, nun hätte sich das Dasein vollendet: Das Dasein ist vielmehr zum Ende.[5] Heidegger: „Der Tod ist eine Weise zu sein […]“[6] Gleichwohl bleibt hier noch unbestimmt, was überhaupt ‚Ende‘ bedeutet. Um es besser in den Blick zu bekommen nimmt Heidegger zunächst eine Abgrenzung gegenüber dem Todesverständnis anderer Disziplinen vor.

Abgrenzung gegenüber dem Todesverständnis anderer Disziplinen
Die Thematisierung des Daseins als bloßes Lebendiges rückt dieses nach Heidegger in den Bereich einer biologisch-physiologischen Betrachtungsweise. Entsprechend Heideggers fundamental-ontologischem Anspruch wird auch von ihm kritisiert, dass einer Ontologie des Lebens notwendigerweise eine Ontologie des Daseins vorgeordnet sein muss. Um diese Trennung deutlich zu machen, wird in „Sein und Zeit“ der physiologische Tod des Daseins Ableben genannt. Die Seinsweise des Daseins hingegen, in welcher es zum Tode ist, nennt Heidegger Sterben[7]. Es wäre deshalb auch nicht falsch zu sagen, Heidegger gibt statt einer Todesanalyse eher eine Analyse der Sterblichkeit.[8] Dieser begrifflichen Unterscheidung folgend kann man nun sagen, dass das Erleben des Ablebens dem Verständnis des Sterbens nachgeordnet ist. Für Heidegger spielen im Kontext der ontologischen Todesanalyse jedoch nicht nur die Wissenschaften Biologie und Psychologie keine Rolle, auch Theodizee-Problematik und Theologie sollen hier nichts beitragen können.

Existenzial-ontologische Struktur des Todes
Nach Heidegger kann der Tod nicht als Ausstand begriffen werden, da dies das Dasein als Vorhandenes verdinglicht. Heidegger wählt deshalb den Begriff des Bevorstands. Da dem Dasein jedoch vieles bevorstehen kann, braucht es noch eine Besonderheit, welche den Tod auszeichnet. Diese findet sich darin, dass der Tod die Seinsmöglichkeit ist, die das Daseins selbst zu übernehmen hat.[9] Der Tod kann nicht durch jemand anderen übernommen werden, wie etwa der Gang zum Bäcker. Häufig wurde darauf hingewiesen, dass es eigentlich banal sei, dass der Tod nicht von jemand anderem übernommen werden kann und das dies ja auch für andere Dinge gilt, wie z. B. der Gang zum Arzt nicht von jemand anderem als von einem selbst vorgenommen werden kann. Der Hinweis hinkt jedoch. Das besondere am Tod ist nämlich, dass es einzig im Tod um den Menschen im Ganzen und in jeder Hinsicht geht, nämlich um sein ganzes Sein und nicht bloß um eine einzelne Möglichkeit des Besorgens.[10] Für Heidegger zeigt sich daher der Tod als die eigenste, unüberholbare Möglichkeit. Als solche ist er ein ausgezeichneter Bevorstand“.[11] Da das Dasein in sein Sein geworfen ist, kann es sich auch die Möglichkeit des eigenen Todes nicht aussuchen. Sie erschließt sich ihm jedoch in der Angst, als Angst vor dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Sein-können. Was Heidegger hier mit „erschließen“ durch eine Stimmung meint, ist, dass es kein reflexives und theoretisches Wissen vom Tod braucht, um sich dessen gewiss zu sein. Wenn hingegen dem Dasein der kommende Tod nicht bewusst ist, dann hat dies seinen Grund im Verfallen des Daseins als Flucht vor der Gewissheit welche die Angst vor dem Tod liefert.

Was Heideggers Todesanalyse gegenüber dem traditionellen Todesverständnis auszeichnet, ist, dass bei Heidegger der Tod ein dem Leben innewohnendes Phänomen darstellt: „Dasein stirbt faktisch, solange es existiert“[12] Heidegger möchte im Folgenden die Richtigkeit seine Todesanalyse, wie schon einige Male mit anderen Themen geschehen, am Dasein in seiner Alltäglichkeit bewähren.

Tod und Alltäglichkeit
Alltäglich ist das Dasein in seiner Bestimmtheit durch das Man, daher ist zu klären, auf welche Weise die Befindlichkeit des Man den Tod erschließt. Zunächst tut sie dies als innerweltliches Ereignis, nicht jedoch als „je meinen eigenen“ Tod. Damit ist jedoch der Blick auf den Tod verstellt: Der Tod trifft lediglich das Man, wie sich an der alltäglichen Rede zeigt, wenn es heißt: „Man stirbt“ eben auch einmal. In dieser Versuchung verdeckt das Man das eigenste Sein zum Tode. Da dieses „man stirbt“ niemand Bestimmtes ist, stirbt in der Auffassung des Man niemand. Hierdurch kommt, so Heidegger, der Anschein auf, das Dasein könne dem Tod entgehen, es kommt zu einer Beruhigung über den Tod.[13] Entsprechend wird auch die Art, wie man sich zum Tod verhält, wird durch das Man bestimmt: Es soll nicht über den Tod nachgedacht werden, keine Angst darf vor ihm aufkommen. Hierdurch entfremdet das Man das Dasein von seinem eigensten Seinkönnen.[14]

Wenn dem Dasein in seiner Alltäglichkeit der Tod also verdeckt bleibt, bleibt zu klären, wovor es sich eigentlich genau in das Man flüchtet. Immerhin gibt der Ausspruch „man stirbt“ eine spezifische Gewissheit des Todes zu, diese ist jedoch, so Heidegger, nicht eigentlich gewiß. [15] Gewissheit gründet in Wahrheit. In seiner Untersuchung der Wahrheit als Entdecktheit hatte Heidegger die Doppelnatur des Daseins bezüglich der Wahrheit betont: Dasein ist zwar immer schon in der Wahrheit, da es Bedingung für jegliches Entdecktes ist (daher ist Wahrheit ein Existenzial), jedoch als faktisches ist Dasein im Modus der Unwahrheit, da ihm durch falsche Vorurteile Sachen verdeckt bleiben. (Siehe Kapitel sechs) Analog ist die Gewissheit – zwar nicht Ungewissheit – aber verdeckte Gewissheit. Selbst wenn für das Dasein einmal der Tod Gegenstand einer kritischen Untersuchung wird, so nur als empirisches Ereignis, aber nicht als eigener.[16] Mit solchen theoretischen Herangehensweisen wird er jedoch noch weniger erschlossen als in der alltäglichen Flucht vor der Gewissheit des Todes. Eine weitere Verdeckung, die der Sichtweise des Man eignet, ist die, dass der Tod durch eine Unbestimmtheit des Wann ausgezeichnet ist: dass der Tod jederzeit eintreten kann.

Mit all dem soweit Gesagten ergibt sich der volle existenzial-ontologische Begriff des Todes nach Heidegger: „Der Tod als das Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins. Der Tod ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu seinem Ende.“[17]Die Todesanalyse ergibt somit den Tod als

  • eigen, wegen der Unvertretbarkeit des Todes,
  • unbezüglich, weil angesichts seiner die innerweltlichen Sinnbezüge ihre Bedeutsamkeit verlieren, im Angesicht des Todes bleibe nur ich übrig,
  • gewiss, was nicht nur bedeutet, dass dieser mit Sicherheit eintritt, sondern dass angesichts des Todes das Dasein seines In-der-Welt-seins gewiss werden kann. Die eigentliche Gewissheit wird dabei durch die Befindlichkeit der Angst erschlossen, denn es handelt sich eben nicht um ein theoretisches Wissen über den Tod, sondern um etwas was das Dasein angeht. Die Gewissheit des Todes ist also von gänzlich anderer Art, als etwa Wissen über Vorhandenes.[18] Dies unterstreicht die erschließende Funktion von Befindlichkeiten, speziell der Angst als Grundbefindlichkeit.
  • unüberholbar, denn er ist die äußerste Möglichkeit der Existenz, mit der zugleich die Existenz endet. Dies modifiziert auch die Fürsorge für die Anderen, denn wenn das Dasein seine Endlichkeit erkennt, dann verzichtet es darauf die Existenzmöglichkeiten der Anderen zu überholen, d. h. auf seine eigenen hin zurückzuzwingen;
  • unbestimmt, denn das Dasein weiß nicht, wann es stirbt. Auch die Unbestimmtheit des Todes wird in die Sphäre der Existenz übersetzt als Unheimlichkeit: Während das Man sich in die vertraute Geschäftigkeit flüchten kann, hält das eigentliche Dasein die Unheimlichkeit und Unbestimmtheit seines Seins aus.

Ziel der Todesanalyse war es, die mögliche Ganzheit des Daseins aufzuzeigen. Diese ist durch das Sein zum Tode nun gegeben. Bis jetzt jedoch wurde nur das uneigentliche Sein zum Tode betrachtet. Es bleibt für Heidegger zu zeigen, wie ein eigentliches Sein zum Tode aussehen könnte.

Das eigentliche Sein zum Tode
Heidegger rekapituliert zunächst, was das eigentliche Sein zum Tode nicht sein kann: Es kann nicht in einem Ausweichen, Verdecken und Umdeuten bestehen. Zwar ist das Sein zum Tode ein Sein zu einer Möglichkeit, jedoch ist diese von ganz anderer Art als z. B. eine anstehende Erledigunge oder Besorgung. Der Tod ist nichts, das das Dasein besorgt.[19]. Auch kann mit dem eigentlichen Sein zum Tode kein Denken an den Tod gemeint sein, dies wird für Heidegger dem Tode als ‚konkrete‘ Möglichkeit nicht gerecht, da es ihn eher distanziert betrachtet. Ein ähnliches Problem ergibt sich, so Heidegger, wenn der Tod lediglich erwartet wird. Was also als eigentliches Sein zum Tode bleibt, nennt Heidegger das Vorlaufen in die Möglichkeit. Dieser Titel soll zwei Sachverhalte betonen: das Dasein verhält sich zum Tod und zwar so, dass hierdurch dieser sich als Möglichkeit enthüllt. Das bedeutet, das Dasein verhält sich nicht zum Tod als Ende des Daseins (es ist dann nicht mehr). Im eigentlichen Sein zum Tode verhält sich das Dasein vielmehr zum Tode in der Form, wie er in der Todesanalyse herausgearbeitet wurde, nämlich in den oben einzeln aufgeschlüsselten Eigenschaften: als eigenste, unbezügliche, gewisse, unüberholbare, unbestimmte Möglichkeit. [20]

Hiermit zeigt sich die konkrete Struktur des Vorlaufens in den Tod: Im Seinsmodus der Eigentlichkeit entreißt sich das Dasein dem Man und bringt sich so als Vereinzeltes vor seine Existenz. Es entwirft sich auf sich selbst hin, nicht auf die durch das Man vorgegebenen Möglichkeiten. Was dies konkret bedeutet, wird von Heidegger allerdings erst im nächsten Kapitel geklärt. Das Dasein anerkennt weiterhin die Unüberholbarkeit des Todes und hält sich hierin, was bedeutet, dass sich das Dasein seiner Endlichkeit bewusst wird. Hierdurch bewahrt es sich davor, seine eigenen mit den Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verwechseln: Weil es sich seiner Endlichkeit bewusst ist, anerkennt das Dasein die im faktischen Möglichkeiten in seiner konkreten Lebenssituation. Erst angesichts des Todes, so Heidegger, kann überhaupt das Dasein Prioritäten setzten, die sich auf es selbst beziehen und nicht in einem potenziell unendlichen Weltgeschehen untergehen. Nur so kann dann das Dasein als Ganzes sein[21].

Heidegger hat soweit die ontologische Möglichkeit eines eigentlichen Seins zum Tode ausgewiesen. Es bleibt jedoch zu klären, ob sich diese überhaupt ontisch verwirklichen lässt, mit anderen Worten: was tut man um eigentlich zu werden? Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, konkrete Möglichkeiten vorzuschreiben, denn das Dasein soll ja seine eigenen, ihm in seiner Lebenssituation gegebenen Möglichkeiten wählen. Ebenso wird Heidegger eine Analyse anschließen, die darlegt, ob es sich lediglich um eine Möglichkeit oder gar um eine Forderung zur Eigentlichkeit handelt. [22]

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. Vgl. SZ, Seite 236.
  2. Vgl. SZ, Seite 238.
  3. SZ, Seite 240.
  4. Vgl. SZ, Seite 242.
  5. Vgl. SZ, Seite 244.
  6. SZ, Seite 245.
  7. SZ, Seite 247
  8. Vgl. Anton Hügli, Byung-Chul Han: Heideggers Todesanalyse. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 139
  9. SZ, Seite 250.
  10. Vgl. Anton Hügli, Byung-Chul Han: Heideggers Todesanalyse. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 138
  11. Vgl. SZ, Seite 251.
  12. SZ, Seite 251. Vgl. auch Anton Hügli, Byung-Chul Han: Heideggers Todesanalyse. in: Thomas Rentsch (Hrsg.): Sein und Zeit. Berlin 2001, S. 139
  13. Vgl. SZ, Seite 244.
  14. Vgl. SZ, Seite 254.
  15. SZ, Seite 256.
  16. Vgl. SZ, Seite 257.
  17. SZ, Seite 258.
  18. Vgl. SZ, Seite 265.
  19. Vgl. SZ, Seite 261.
  20. Vgl. SZ, Seite 262.
  21. Vgl. SZ, Seite 264.
  22. Vgl. SZ, Seite 266.