Martin Heidegger „Sein und Zeit“/ Erstes Kapitel §§ 1–4

Die Seinsfrage als scheinbar beantwortete Frage
Zunächst bespricht Heidegger drei Vorurteile gegenüber dem Begriff Sein: 1.) es sei der allgemeinste Begriff, aber doch umgrenzt er nicht einfach eine oberste Gattung, 2.) als allgemeinster sei er nicht zu definieren, also nicht durch niedere Begriffe darzustellen, nicht durch höhere abzuleiten und 3.) der Begriff Sein sei selbstverständlich.[1]

Allerdings zeige gerade der zweite Punkt, dass Sein offensichtlich nicht das gleiche ist wie Seiendes. Ebenso verdunkelt auch die Berufung auf seine Selbstverständlichkeit ein Verständnis: Was ist gemeint mit dem Satz „Der Himmel ist blau“? Da nicht nur die Antwort fehlt, sondern auch die Frage im Dunkeln liegt, soll zunächst wieder ein Verständnis für diese Frage geweckt werden.[2]

Das Seinsverständnis des Daseins als Geleit für die ontologische Frage nach dem Sein
Da der Sinn von Sein in gewisser Weise immer schon verfügbar ist, kann dieses „vage Seinsverständnis“[3] als Geleit für die Frage dienen. Sein ist das, was Seiendes als Seiendes bestimmt. Es bildet einen Verständnishorizont, innerhalb dessen Seiendes erscheinen kann und verstanden wird. Jedes Seiende wiederum hat sein Sein, also seinen sinnhaften Kontext, der es in der Welt verortet. Das Sein ist also nicht selbst ein Seiendes (keine Entität) und kann ebenso wenig durch die Rückführung auf anderes Seiendes erklärt werden. Da die Begrifflichkeiten der Tradition (z. B. Kategorien) laut Heidegger auf Seiendes und nicht auf das Sein zugeschnitten sind, ist es notwendig eine eigene Begrifflichkeit zu entwickeln, welche die eben genannten Probleme vermeidet.[4] Als Ausgangspunkt der Untersuchung wählt Heidegger das Dasein. Mit dem Begriff Dasein versucht Heidegger die Existenzform des Menschen in ontologischer Weise zu fassen, d. h. in Abgrenzung zu anderen Disziplinen, wie der Anthropologie, Psychologie, Biologie.

Um die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen, analysiert Heidegger die allgemeine Form einer Frage. Es gibt stets ein Er-fragtes und einen Be-fragten. Um die Untersuchung von paradigmatischen Annahmen (z. B. einem transzendentalem Subjekt) frei zu halten, möchte Heidegger das Dasein befragen, womit er meint, es mittels der phänomenologischen Methode zu untersuchen. Dass das Dasein zugleich auch der Fragende selbst ist, erweist sich zusätzlich als Vorteil: Wer etwas fragt hat zumindest eine ungefähre Ahnung wonach er da fragt. Was zunächst wie ein Zirkel erscheint, ist jedoch keiner, da es bei der Beantwortung der Frage nicht um eine abgeleitete Begründung, sondern um „aufweisende Grund-Freilegung“ geht: Dies ist der gewollt hermeneutische Ansatz, der nach Heidegger allein dazu taugt, paradigmatische Vorgaben zu verhindern. Den Vorrang des Daseins bei der Beantwortung der Seinsfrage unternimmt Heidegger im Folgenden zu beweisen.

Der ontologische Vorrang der Seinsfrage als Ausdruck der Grundlagenkrise der Wissenschaften
Der ontologische Vorrang der Seinsfrage wird für Heidegger an den Grundlagenkrisen der positiven Wissenschaften deutlich.[5] Jede Wissenschaft behandelt ihr Gebiet, das Seiende, mit vorausgesetzten Grundbegriffen. Die Biologie behandelt die belebte Natur, die Physik die unbelebte Natur. Da sie jedoch nur nach dem Seienden fragen, bleibt ihre Untersuchung rein ontisch. Sie legen nicht über das Sein (belebt/unbelebt) dieses Seienden Rechenschaft ab. Der Verständnishorizont ihrer Thematisierung wird für sie selbst nur in Krisen zum Problem. Da also die Ergebnisse der Wissenschaften auf der in den Grundbegriffen implizierte Entscheidung über das Sein des Seienden aufbauen, erwartet Heidegger von ihnen keine Antworten auf die Seinsfrage: Die positiven Wissenschaften nehmen diese Grundbegriffe als gegeben und fragen dann nur ontisch weiter. Es ist aber nicht Aufgabe der Einzelwissenschaften ihre ontologischen Voraussetzungen zu klären, sondern die der Philosophie. Allerdings gilt auch für das ontologische Fragen, dass es nicht nur Bedingung der Möglichkeit der positiven Wissenschaften ist (wie zum Beispiel der damals im Schwange befindliche Neukantianismus, gegen den sich Heidegger hier abgrenzt), sondern dass es zunächst den Sinn von Sein erörtern muss. Dieser steht im Zentrum des ontologischen Fragens.[6]

Seinsverständnis als ontische Auszeichnung des Daseins
Zum ontischen Vorrang der Seinsfrage erläutert Heidegger: Auch die Wissenschaften haben die Seinsart dessen, der sie betreibt. Dies ist das Dasein, welches sich dadurch auszeichnet, dass es ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.[7] Da das Dasein diese seine Ausgezeichnetheit immer schon in irgendeiner Weise versteht, sagt Heidegger, es habe Seinsverständnis. Dies ist die ontische Auszeichnung (das was es unter anderem Seienden als zu Befragendes hervorhebt) des Daseins, nämlich dass es ontologisch (seinverstehend) ist: Es geht ihm in seinem Sein immer schon um sich selbst – und dass es dies versteht, heißt, dass es ontologisch ist. Dies meint freilich nicht, dass das Dasein eine Ontologie als Lehre seines Seinsverständnisses ausbildet. Heidegger nennt das Dasein mit vagem Seinsverständnis deshalb präziser „vorontologisch“.

Existenz als Begründung des ontischen Vorrangs des Daseins bei der Bestimmung der Seinsfrage
Dass das Dasein vorontologisch ist, meint, dass das Dasein sich immer zu sich selbst verhält und sich aus seiner Existenz versteht. Heidegger möchte mit dem Begriff der Existenz vermeiden, den Menschen über eine Wesensdefinition zu erklären. Statt einem statischen Wesen meint Existenz hingegen Vollzugsweise des Daseins: Dasein ist, indem es existiert. (Zum Beispiel ist man Lehrer nicht durch einen Titel, sondern nur, indem man vor einer Klasse steht und unterrichtet.) Dasein bewegt sich innerhalb einer Struktur von Möglichkeiten zu sein. Das alltägliche Verständnis dieses Wählenkönnens zwischen Möglichkeiten ist ein existenzielles und ist für jeden Lebensvollzug nötig. Ein explizites Verständnis davon, was Existenz konstituiert, nennt Heidegger existential. Heideggers Analyse der Existenz ist also eine existentiale Analyse, es ist eine Analytik der Existenzialität der Existenz.[8]

Mit dem Gesagten ergibt sich nach Heidegger: Dasein hat ein Vorverständnis seiner selbst, also seiner Existenz. Diese kann es außerdem explizit machen. Eine Fundamentalontologie, welche die Ontologie auf ihr Fundament, das Dasein, zurückführen möchte, muss also, um die Frage nach dem Sinn von Sein zu beantworten, in einer existenzialen Analytik des Daseins gründen.[9] Dies ist der ontische Vorrang des Daseins. Das Dasein hat sich somit nach Heidegger zur Beantwortung der Seinsfrage ontisch und ontologisch als vorrangiger Ansatzpunkt der Untersuchung erwiesen. Als dritten Vorrang fügt Heidegger hinzu: Das Dasein hat ein Verstehen des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden, dies ist sein ontisch-ontologischer Vorrang.

Einzelnachweise

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  1. Vgl. SZ, Seite 4
  2. Vgl. SZ, Seite 4
  3. Vgl. SZ, Seite 5
  4. Vgl. SZ, Seite 6
  5. Vgl. SZ, Seiten 9–10
  6. Vgl. SZ, Seite 11
  7. Vgl. SZ, Seite 12
  8. Vgl. SZ, Seite 12
  9. Vgl. SZ, Seite 13