Karl Marx und die Kritik der politischen Ökonomie/ Einleitung

Ein unvollendetes Werk Bearbeiten

Das ökonomische Werk von Karl Marx (1818–1883) ist keineswegs abgeschlossen. In den „Andeutungen über den Gang meiner eigenen politisch-ökonomischen Studien“ beschreibt Marx in Kürze die Entwicklung seiner Forschung auf dem „Gebiet der politischen Ökonomie“.[1] 1842/43 beginnt Marx als Redakteur der „Rheinischen Zeitung“, sich näher mit ökonomischen Fragen zu beschäftigen. 1844 erscheint in der einzigen Ausgabe der von Marx gemeinsam mit Arnold Ruge herausgegebenen Pariser Zeitschrift „Deutsch-Französische Jahrbücher“ die Arbeit Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie seines späteren Freundes und Mitstreiters Friedrich Engels (1820–1895).[2] Marx wird sich noch öfter positiv auf diesen Text berufen. In derselben Ausgabe publiziert Marx seine erste ökonomische Arbeit: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung.[3] Während dieser Arbeit sei Marx nach eigener Aussage zu dem Ergebnis gelangt, dass „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“.[4] In dieser Arbeit hatte Marx erstmals seine „materialistische Geschichtsauffassung“ öffentlich dargelegt. Seine Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844, auch bekannt als Pariser Manuskripte, erscheinen erst im Jahr 1932.[5] Diese Arbeit übt in Folge großen Einfluss auf die marxistische Philosophie des 20. Jahrhunderts aus.

Mit Erscheinen der von der UNESCO als „Meisterstück ökologischer Analyse“[6] bezeichneten Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England[7] von Engels im Jahr 1845, in welcher dieser laut Marx „zu demselben Resultat gelangt“[8] sei wie Marx selbst, intensiviert sich im gemeinsamen Exil in Brüssel die Zusammenarbeit der beiden. Aus dieser Zeit stammen die Arbeiten Die heilige Familie[9] (1845), Die deutsche Ideologie[10] (1845–1847), Das Elend der Philosophie[11] (1847) sowie das im Dezember 1847 im Auftrag des „Bundes der Kommunisten“ verfasste Manifest der Kommunistischen Partei[12]. Nach einer „Pause“ durch die Revolutionen 1848/49 setzt Marx seine Studien 1850 im Londoner Exil fort. In Folge führt „die gebieterische Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit“ bei der Zeitung „New-York Tribune“ zu einer weiteren Verzögerung des geplanten Werkes.[13] 1857 nimmt Marx seine theoretischen Studien durch die Wirtschaftskrise angeregt wieder auf. Marx und Engels erwarten als Folge der Krise den Ausbruch einer sozialen Revolution in West- und Mitteleuropa. Im Dezember 1857 schreibt Marx in einem Brief an Engels: „Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner ökonomischen Studien, damit ich wenigstens die Grundrisse im klaren habe bevor dem déluge[14].“ Ende März 1858 ist ein Verleger gefunden und der Großteil der Arbeit beendet, die später als Grundrisse[15] bekannt wurde, doch Marx erkrankt und kann das Manuskript erst im Herbst 1858 beenden. Inzwischen ändert er seinen Plan und publiziert aus Unzufriedenheit mit der alten Darstellung lediglich den dritten Teil seiner Arbeit. Dieses erste Zwischenergebnis erscheint 1859 als Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft.[16] Zur Kritik ist die erste Veröffentlichung der Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise und besteht aus den beiden Kapiteln Ware und Geld. Thematisch deckt es sich mit dem ersten Abschnitt des 1867 erschienen 1. Bandes des „Buchs Vom Kapital“.

Planänderung und Das Kapital Bearbeiten

Marx sah in seinem Plan von 1857 vor, sich von der abstrakten Kategorie des „Kapital im Allgemeinen“ zu den konkreten Erscheinungen des Kapitalismus vorzuarbeiten.[17] Im erwähnten Brief an Lassalle von 1858 wiederholt Marx, dass seine „Kritik der politischen Ökonomie“ insgesamt sechs Bücher umfassen soll.

  1. Vom Kapital.
  2. Vom Grundeigentum.
  3. Von der Lohnarbeit.
  4. Vom Staat.
  5. Internationaler Handel.
  6. Weltmarkt.

Als Marx das Manuskript zu Band II des „Buchs Vom Kapital“ (welches 1885 postum erschien) beendet hat, schreibt er jedoch in einem Brief an seinen Freund Ludwig Kugelmann[18]:

„Es [Band II; Anm.] ist die Quintessenz (zusammen mit dem ersten Teil [Zur Kritik der politischen Ökonomie bzw. Band I; Anm.]), und die Entwicklung des Folgenden (mit Ausnahme etwa des Verhältnisses der verschiedenen Staatsformen zu den verschiedenen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft) würde auch von Anderen auf Grundlage des Gelieferten leicht auszuführen sein.“

Tatsächlich hat Marx zu Lebzeiten keine Gelegenheit mehr, seinen Plan einer umfassenden wissenschaftlich fundierten Kapitalismus-Studie zu vollenden. Einige seiner Schriften wurden wie bemerkt erst nach seinem Tod (und obendrein nur in Fragmenten) veröffentlicht. Andere wiederum hat Marx aus Mangel an Zeit gar nicht erst geschrieben. Manche seiner Arbeiten warten nach wie vor auf Veröffentlichung. 1862 bis 1874 leidet Marx an einer Hautkrankheit, weshalb er seine Studien immer wieder über längere Abstände unterbrechen muss. Außerdem verwirft Marx im Laufe seiner Studien seine ursprünglichen Pläne und ändert mehrmals die Darstellung seiner Forschungsergebnisse. Diesem Aspekt des Marxschen Werkes – der Frage der Methode einerseits und dem fragmentarischen, unvollendeten Charakter seines Opus andererseits – wird in der Marx-Forschung und Marx-Rezeption nach wie vor wenig Platz eingeräumt. Auf dieser Prämisse fußt die vorliegende Arbeit.

1867 wird Das Kapital. Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals von Karl Marx erstmals publiziert. Diese Fassung ist auch als „Urtext“ bekannt, da sich in den Folgeeditionen maßgebliche Änderungen zur ersten Auflage finden. Mit seinen Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie, wie der Untertitel dieses monumentalen Hauptwerks von Marx lautet, beschäftigt er sich von 1857 bis zu seinem Tod durchgehend. Dennoch ist das Marxsche „Kapital“ wie bereits erwähnt alles andere als vollendet. Lediglich Band I des ersten Buches („Das Buch vom Kapital“) von ursprünglich sechs geplanten Büchern erscheint unter Marx' Regie. Band II (Der Zirkulationsprozess des Kapitals, 1885) und Band III (Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion, 1895) werden von Engels nach den Aufzeichnungen von Marx besorgt. Nach wie vor gibt es Diskussion darüber, wie sehr die von Engels redigierten Ausgaben den ursprünglichen Plänen von Marx tatsächlich entsprechen. Ferner hatte Marx noch Bücher zur Geschichte der politischen Ökonomie (Plan von 1865/66) beziehungsweise (nach dem ursprünglichen Plan von 1857/58) zum Grundeigentum, zur Lohnarbeit, zum Staat, zum Außenhandel sowie zu Weltmarkt und Krisen geplant, jedoch fehlt Marx einerseits die Zeit zur Ausarbeitung dieser Werke, andererseits ändert er wie weiter oben ausgeführt den Plan und die Darstellung seiner Arbeit während seiner Studien.

Die Marxsche Methode Bearbeiten

Noch 1844 hat Marx die Absicht, neben einer Kritik der politischen Ökonomie auch eine Kritik des Staates und der Politik sowie eine eigene Kritik der Philosophie zu verfassen. Der Begriff Kritik steht hier nicht für bloße Infragestellung, Herabwürdigung oder Skepsis gegenüber der politischen Ökonomie, sondern ist vielmehr im klassischen philosophischen Sinn gemeint. So wie Immanuel Kant (1724–1804) mit seiner Kritik der reinen Vernunft (Königsberg 1781)[19] nach den „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis“ aus reiner Vernunft suchte, geht es Marx bei seiner Kritik in erster Linie darum, Grenzen und Geltungsbereich der untersuchten Wissensgebiete samt ihrer Fachbegriffe, in unserem Fall der politischen Ökonomie als eigenständiger Wissenschaft, abzustecken. In einem Brief an den Begründer der deutschen Sozialdemokratie, seinen Freund und Bewunderer Ferdinand Lassalle, beschreibt Marx seine Methode folgendermaßen[20]

„Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“

Vor seinen intensiveren ökonomischen Studien im Londoner Exil benutzt Marx die politische Ökonomie zwar in kritischer Absicht, ist aber von einer Kritik der politischen Ökonomie noch weit entfernt.[21] Stellvertretend für diese Phase können die Arbeiten von 1847 Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“, Lohnarbeit und Kapital sowie das Kommunistische Manifest genannt werden.

Seine „dialektische Darstellungsmethode“ beschrieb Marx als wichtiges Instrument seiner Kritik. Sowohl unter Marx-Gegnern wie unter seinen Anhängern ist die Marxsche Dialektik jedoch stark umstritten. Am Ausführlichsten beschäftigt sich der Marxist Roman Rosdolsky in seinem Hauptwerk Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital (Frankfurt am Main/Wien 1968) mit der Genesis der Marxschen Kritik und ihrer Rezeption. In Gegensatz beispielsweise zur strukturalistischen Interpretation von Louis Althusser beweisen für Rosdolsky die so genannten Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie von Marx (London 1857–1858) die methodologische Bedeutung der Dialektik für Das Kapital. Er formuliert daher das Desiderat, diese gründlich zu analysieren.[22] Die „richtige“ Interpretation und Lesart des Marxschen Kapital sind umstritten. Auf Grund der teilweise recht abstrakten Darstellung der Bände I und II empfiehlt es sich, die Originalstellen bei Marx mehrmals und mit Hilfe von Sekundärliteratur zu lesen. Die Zuhilfenahme der Marx-Engels-Gesamtausgabe wird angeraten.

In einer Besprechung bislang unveröffentlichter Manuskripte zu Band II des Kapital schreibt der zeitgenössische Marxforscher Fritz Fiehler[23]:

„In den 1960er Jahren haben Louis Althusser und Etienne Balibar zu einer Wiederentdeckung des Marxschen »Kapitals« beigetragen. Sie empfahlen, das erste Buch gründlich zu lesen, seinen Anfang auch wiederholt durchzugehen, bevor man über die kahlen und trockenen Hochebenen des zweiten Buches den Weg ins gelobte Land des Profits, des Zinses und der Rente finde. Mit dieser Empfehlung stellten sie das Verständnis vom »Kapital« als angewandten historischen Materialismus in Frage. Sie machten die geschichtsphilosophische Vereinnahmung der Marxschen Theorie strittig – und das im Verein mit Marxforschern wie Roman Rosdolsky, Witali Wygodski und Jindrich Zeleny. Das »Kapital« sollte als eine genuin kritische Theorie der Gesellschaft zu ihrem Recht kommen.“

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Karl Marx:   Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. Franz Duncker Verlag, Berlin 1859. (MEW 13, S. 7–160. Hier: Vorwort, S. 7–11.)
  2. Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. Geschrieben im Januar 1844. In: Arnold Ruge, Karl Marx (Hrsg.):   Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1844. (MEW 1, S. 499–524.)
  3. Karl Marx:   Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. (MEW 1, S. 378–391)
  4. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort.
  5. Karl Marx:   Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Paris 1844. (MEGA² I/2 und MEW Ergänzungsband I, S. 465–590.)
  6. Lothar Peter: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Georg W. Oesterdiekhoff (Hrsg.): Lexikon der soziologischen Werke. VS Verlag, 2001.
  7. Friedrich Engels:   Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Leipzig 1845. (MEW 2, S. 225–506.)
  8. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort.
  9.   Die heilige Familie
  10.   Die deutsche Ideologie
  11.   Das Elend der Philosophie
  12.   Manifest der Kommunistischen Partei
  13. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort.
  14. déluge: frz. Sintflut. Gemeint ist die Revolution. Anm.
  15.   Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
  16. Karl Marx:   Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. Franz Duncker Verlag, Berlin 1859. (MEW 13, S. 7–160.)
  17. Einleitung von 1857. Unveröffentlicht.
  18. Karl Marx: Brief an Ludwig Kugelmann, 28. Dezember 1862. (MEW 30, S. 639.)
  19. Immanuel Kant:   Kritik der reinen Vernunft. Königsberg 1781.
  20. Karl Marx: Brief an Ferdinand Lassalle, 11. März 1858. (MEW 29, S. 550; Hervorhebung von Marx.)
  21. vgl. Heinrich 2008, S. 241
  22. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Vorrede. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main/Wien 1968, 1973, S. 7 f.
  23. Fritz Fiehler Rezension der MEGA II.11. In: Sozialismus Nr. 10, 2008.
    (Online-Version: http://www.das-kapital-lesen.de/wp-content/uploads/fiehler-mega-ii11-in-sozialismus_10_2008.pdf)