Prinzipien des Karate

Bearbeiten

Äußere Prinzipien

Bearbeiten

Zwei sich auch dem flüchtigen Betrachter offenbarende Eigenschaften des Karate sind Kraft und Koordination. Leider ist die deutsche Sprache an dieser Stelle unpräzise, denn hier ist nicht die pure Muskelkraft gemeint, sondern die durch die große Schlaggeschwindigkeit hervorgerufene Kraft. Die Muskeln des Karateka haben durch langjähriges Training eine hohe Schnellkraft erworben. Es ist also nicht der Muskelquerschnitt, wie er durch Training mit Gewichten vergrößert werden kann, den wir zu erhöhen suchen; statt dessen wird durch Üben der schnellen Karatetechniken die intramuskuläre Koordination erhöht, die in einer höheren Bewegungsgeschwindigkeit mündet. Aus diesem Grunde können auch schmächtige Personen eine hohe Schlagkraft erzielen, die man ihnen nicht zugetraut hätte, denn den Grad der Koordination der Muskeln kann man ihnen nicht von außen ansehen. Die Effizienz dieses Prinzips des Karate läßt sich auch physikalisch begründen: Die kinetische Energie einer Masse (hier z.B. der Faust) ist gegeben durch

 

Die Geschwindigkeit geht quadratisch ein, das bedeutet, dass durch Verdopplung der Geschwindigkeit eine Vervierfachung der Energie erreicht wird. Verdreifacht sich die Geschwindigkeit, so ist die Energie schon verneunfacht!

Doch Koordination spielt auch noch eine andere Rolle. Elementar wichtig bei der Ausführung einer Karatetechnik ist das Zusammenspiel aller Muskelgruppen des Körpers. Dies wird oft festgemacht an einer guten Hüftarbeit. Das Becken mit den Hüften ist der größte Knochen im menschlichen Körper und nur wenige Zentimeter über ihm befindet sich der Schwerpunkt der Körpers. Die Hüften sind der Dreh- und Angelpunkt einer jeden Bewegung, die den ganzen Körper umfassen soll, doch auch sie sind nur ein Anhaltspunkt, auf den man sich konzentrieren kann. Tatsächlich sind an einer kraftvollen Karatetechnik alle größeren Muskelgruppen beteiligt.

Im Karate muss man immer im Gleichgewicht stehen - körperlich wie seelisch. Doch Gleichgewicht ist hier mehr als nur Balance. Gemeint ist hier ein stabiles Gleichgewicht, welches man auch bei kleiner Auslenkung aus dem Gleichgewichtszustand (z.B. weil man einem Angriff ausweichen musste) nicht verliert. Die tiefen Stände haben im Training nicht nur das Ziel die Beinmuskulatur zu trainieren, sondern sollen zudem eine solide, starke Ausgangsposition für weitere Aktionen bieten.

Ein weiteres Prinzip des Karate ist der Kime. Kime-Techniken können in den Kampfkünsten auf drei Weisen ausgeführt werden: 1. indem man durch Körperkraft mechanische Schockwirkungen erzeugt 2. indem man durch eine weiche Kraft die destruktiven Wirkungen im Körperinneren des Gegners verbreitet 3. indem man mit Punkttechniken die gegnerischen Vitalpunkte stimuliert.

Mit dem Ausspruch zur rechten Zeit am rechten Ort kommen wir dem Prinzip Timing sehr nahe. Fragt man sehr fortgeschrittene Karateka wie sie es schaffen bei ihren Gegnern scheinbar mühelos Lücken in der Deckung zu finden, dann antworten sie oft, sie hätten ein Gefühl für Timing. Ähnlich wie beim Schach wogt beim Kampf zweier etwa gleichfähiger Karateka die Initiative zwischen ihnen hin und her, bis es einem gelingt, den Rhythmus des anderen zu stören oder eine Schwäche in seiner Verteidigung wahrzunehmen. Dann muss noch der richtige Abstand (Maai) eingenommen sein, um die eine entscheidende Technik anzubringen (Ikken-hissatsu, Ein-Punkt-Faust, der entscheidende Treffer).

Eine korrekte Atemtechnik ist ebenfalls wichtig. Zum Kime wird ausgeatmet, unterstützt vom Kiai. Das Ausatmen ermöglicht das Anspannen der Bauch- und der restlichen Rumpfmuskulatur, um den ganzen Körper zu festigen und eine optimale Kraftübertragung vom Boden bis zur Trefferfläche zu ermöglichen.

Um einem Stoß oder Schlag zusätzliche Bewegungsenergie zu verleihen, wird der Streckbewegung des jeweiligen Arms eine Rumpfdrehung in Richtung auf das Ziel überlagert. Diese Drehung wird unterstützt, indem der gegenüberliegende Arm zurückgezogen wird. Die zurückgezogene Faust an der Hüfte (Hiki-te) ist zum Beispiel im Shotokan-Stil ein eindeutiges Erkennungsmerkmal des Karate. Andere Stile, wie beispielsweise Goju-ryu, setzen die Faust bedeutend höher zum Ansatz der kurzen Rippen. Zusätzlich befindet sich die Faust in einer idealen Ausgangsposition für einen zweiten Angriff und hat zudem durch das Zurückziehen einen Spannungsvorrat angesammelt, der nur darauf wartet entladen zu werden.

Die Karate-Techniken sind - korrekt angewendet - hochwirksam und gefährlich. Um den Partner im Training nicht zu verletzen, hat sich die Methode durchgesetzt, einen Schlag, Stoß oder Tritt wenige Zentimeter vor dem Ziel abrupt zu stoppen (Sun-Dome, 1 Sun entspricht etwa 3 cm.). Hochpräzise und kontrolliert müssen diese Techniken ausgeführt werden, um unseren Partner nicht versehentlich niederzuschlagen. Der Verzicht auf Trefferwirkung erfordert ein separates Schlagpolstertraining an Pratzen, Sandsäcken oder Makiwaras um zum einen die Hände abzuhärten und sich zum anderen mit dem schockartigen Auftreffen beim tatsächlichen Schlagen vertraut zu machen.

Innere Prinzipien

Bearbeiten

Die japanischen Weg-Künste sind seit jeher nicht auf die Erreichung eines äußeren Ziels ausgerichtet gewesen, sondern zielen immer auf das Innere des Menschen. So ist auch Karate schon seit dem Beginn seiner systematischen Übung und Lehre mehr gewesen als ein Gymnastiksystem zur Selbstverteidigung. Wenn auch die inneren Prinzipien oft nicht mündlich erklärt werden (können), so sind sie doch tief in die Lehre eingebettet. Ohne diese Prinzipien gäbe es kein Karate.


Zanshin
Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Nicht-Nachlassen der Konzentration.
Sen
Initiative. Angriff meint hier weniger den Moment des physischen Angriffs (Okuri), sondern den Moment, in dem der Angreifer entscheidet anzugreifen. Bei dieser höchsten Stufe der Initiative wird ein Angriff in einer derart frühen Phase der Entstehung "erspürt", dass dieser sich nicht erst entfalten kann, es für den Angreifer schon zu spät ist, den Angriff abzubrechen.
Sen no Sen
Gegenangriff, im Moment des Angriffs.
Go no Sen
Gegenangriff nach dem Moment des Angriffs.
Sen Sen no Sen
Gegenangriff vor dem Moment des Angriffs (Präemptiv). Der Angriff erfolgt unmittelbar vor dem Angriff des Gegners.
Mushin
"Nicht-Geist", aus dem Zen entlehnter Geisteszustand der Nichthaftung, Nichtklammerung an bestimmte Gedanken. Unvoreingenommenheit. Abwesenheit von bewußten Gedanken, Gefühlen, Urteilen, die die intuitive Urteilsfähigkeit trüben. Durch Mushin wird der Geist befreit, so dass er sich in jede beliebige Richtung entscheiden und handeln kann, bevor ein intellektueller Prozess angestoßen wird.
Mizu no Kokoro
Ein Geist wie das Wasser. Ein Geisteszustand der Ruhe und Nicht-Aggression. Das Wasser weicht jedem Angriff, kehrt aber sofort zurück. Es passt sich jeder Form an, ist hart und weich zugleich. Es kann nicht gefasst werden; je fester man es greift, desto mehr verliert man. Eine Wasseroberfläche interpretiert nichts, sondern spiegelt wieder, ohne Gedanken, spontan, sofort.

"Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln." Laotse


Vorheriges Kapitel Inhaltsverzeichnis dieses Buches Nächstes Kapitel