Examensrepetitorium Jura: StGB AT: Handlungslehren


Menschliches Verhalten

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Als Grundlage der Strafbarkeit ist gemeinhin anerkannt, dass nur menschliches Verhalten Anknüpfungspunkt einer Straftat sein kann. Im Folgenden wird zur Vereinfachung nur von der Handlung (= Tun), nicht von der Unterlassung (= Nichttun) ausgegangen.

Das menschliche Verhalten muss willentlich gesteuert sein. Somit scheiden Reflexe und Körperreaktionen als Strafgrund aus. (Bsp.: Eine Mutter, die ihr Neugeborenes nachts neben sich liegen hat und es im Schlaf erdrückt, ist nicht wegen des Erdrückens strafbar. Wohl kann und wird aber an das Neben-sich-Legen des Kindes angeknüpft werden.[1]) Auch Handlungen im weiteren Sinn, die durch vis absoluta hervorgerufen wurden, sind kein Strafgrund. (vis absoluta ist die "willensausschließende" Gewalt, dh., dass jemandem bspw. beim Schreiben die Hand geführt wird und er nichts dagegen tun kann. Er hat zwar einen Willen, kann ihn aber nicht betätigen.)

"Aufbau" der Strafbarkeit

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Die Strafbarkeit eines Handelnden setzt sich aus verschiedenen Stufen zusammen, die sich immer weiter verengen. Was damit gemeint ist, verdeutlicht folgendes Bild.

Hinweis: Dabei wurde noch kein Bezug auf eine bestimmte Handlungslehre genommen. Es soll nur zur Verdeutlichung dienen!

"Aufriss"

                        ┌────┐
                        │XXXX│
                      ┌─┴────┴─┐
                      │ Straf- │ bedürftigkeit/-würdigkeit
                   ┌──┴────────┴──┐
                   │    Schuld    │
                ┌──┴──────────────┴──┐
                │  Rechtswidrigkeit  │
             ┌──┴────────────────────┴──┐
             │    Tatbestandsmerkmale   │
          ┌──┴──────────────────────────┴──┐
          │           Kausalität           │
       ┌──┴────────────────────────────────┴──┐
       │               Handlung               │
    ┌──┴──────────────────────────────────────┴──┐
    │           menschliches Verhalten           │
   ─┴────────────────────────────────────────────┴─
______________________________________________________

"Grundriss"

    ┌─────────────────────────────────────────────┐
    │                      menschliches Verhalten │
    │  ┌──────────────┐    ┌────────────────────┐ │
    │  │  Kausalität  │    │      Handlung      │ │
    │  │   ┌──────────┴────┘                    │ │
    │  │   │                                    │ │
    │  │   │ ┌────────────────────────────┐     │ │
    │  │   │ │     Tatbestandsmerkmale    │     │ │
    │  │   │ │                            │     │ │
    │  │   │ │   ┌────────────────────────┴───┐ │ │
    │  │   │ │   │     Rechtswidrigkeit       │ │ │
    │  │   │ │   │                            │ │ │
    │  │   │ │   │                            │ │ │
    │  │ ┌─┴─┴───┴──────────────┐             │ │ │
    │  │ │        Schuld        │             │ │ │
    │  │ │                      │             │ │ │
    │  │ │    ┌─────────────────┴────────┐    │ │ │
    │  │ │    │   XXXX  Strafbedürftig-  │    │ │ │
    │  │ │    │   XXXX  keit/ -würdigkeit│    │ │ │
    │  │ │    │   XXXX                   │    │ │ │
    │  │ │    └─────────────────┬────────┘    │ │ │
    │  │ │                      │             │ │ │
    │  │ └─┬─┬───┬──────────────┘             │ │ │
    │  │   │ │   │                            │ │ │
    │  │   │ │   └────────────────────────┬───┘ │ │
    │  │   │ │                            │     │ │
    │  │   │ └────────────────────────────┘     │ │
    │  │   └──────────┬─────────────────────────┘ │
    │  │              │                           │
    │  └──────────────┘                           │
    └─────────────────────────────────────────────┘

Zur Erklärung:

In den Abbildungen ist die Stufe/ Fläche der Strafbarkeit durch XXXX gekennzeichnet.

Im Aufriss ist zu sehen, dass jedes menschliche(!) Verhalten eine bstimmte Qualität haben muss. Es wird dabei von Stufe zu Stufe konkretisiert. Und erst wenn es all diese Stufen überwunden hat, ist es strafbar und kann verfolgt werden.

Der Grundriss zeigt, dass die jeweiligen Stufen nicht über einander liegen müssen. Im Gegenteil, oftmals ist ein Verhalten bspw. schuldhaft oder rechtswidrig, aber nicht kausal. Deshalb ist nur ein Verhalten strafbar, bei dem alle anderen Stufen (genau) darüber liegen.

Diese verschiedenen Prüfungsebenen/ -stufen können auch als Filter verstanden werden, so dass eine Strafbarkeit nur gegeben ist, wenn die Handlung "gefiltert" wurde.

Handlungslehren

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Mit der Zeit haben sich verschiedene Handlungslehren herausgebildet. Sie woll(t)en klären, was als strafrechtliche Handlung zu gelten hat. Diese Lehren finden und fanden ihren Ausdruck im Deliktsaufbau, wie man ihn im Gutachten prüft.

Am Anfang, mit der Entstehung des StGB (1871), gab es den sogenannten klassischen Verbrechensbegriff. Er behandelte die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit rein objektiv und prüfte alles Subjektive in der Schuld. Hieraus entwickelte sich Anfang des 20. Jh. der neo-klassische Verbrechensbegriff, der subjektive Elemente schon in die Tatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit hineinzog, aber den Vorsatz noch als Schuldform beließ. Da auch dies nicht als das "Gelbe vom Ei" angesehen wurde, wurde der Vorsatz in den subjektiven Tatbestand geschoben, wobei er nach der finalen Handlungslehre hier voll aufgeht. Dem teleologischen System, das auf die soziale Handlungslehre abstellt, zu Folge besitzt der Vorsatz eine Doppelfunktion, indem er (1) im subjektiven Tatbestand nur den Vorsatz bzgl. der objektiven Tatbestandsmerkmale und (2) in der Schuld den sog. Vorsatz-Schuldvorwurf darstellt. Daneben entwickelte sich noch die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen. Sie geht von einem zweistufigen Deliktsaufbau mit den Stufen "Gesamtunrechtstatbestand" und "Schuld" aus. Im Frühstadium ihrer Entwicklung waren die Rechtfertigungsgründe negative Tatbestandsmerkmale, so dass nur bei deren Abwesenheit Unrecht verwirklicht wurde.

Im Folgenden werden das teleologische und das finale System am Beispiel des Diebstahls, § 242 StGB, dargestellt.

              teleologisches System            finales System

Tatbestands-             a) objektiver Tatbestand
mäßigkeit                    • Wegnahme einer frem-
                               den beweglichen Sache

                         b) subjektiver Tatbestand
                             • Tatbestandsvorsatz
                             • Absicht rechtswidriger
                               Zueignung

Rechtswi-                a) objektive Rechtfertigungsmerk-
drigkeit                    male
                         b) subjektive Rechtfertigungs-
                            merkmale

Schuld                   a) Schuldfähigkeit
                         b) Fehlen von Entschuldigungsgrün-
                            den
            c) Vorsatz-Schuldvorwurf         c) Unrechtsbewusstsein
               als Schuldform                   als Schuldelement
            d) Unrechtsbewusstsein als
               sonstiges Schuldelement

Diese beiden Systeme werden heute hauptsächlich vertreten. Welchem von beiden man folgt, ist eigentlich egal. Auswirkungen hat die jeweilige Lehre va. auf den sog. "Erlaubnisumstandsirrtum", also den Irrtum über Rechtfertigungsgründe. Welchen Aufbau die Rspr. zur Grundlage nimmt, ist nicht eindeutig. Klar ist nur, dass ein Teil der Rspr. dem klassischen oder auch neo-klassischen System folgt. Alles in allem ist die Rspr. in diesem Punkt eher etwas undurchsichtig.

  1. Zum Problem des Schlafes Fahl, "Schlaf als Zustand verminderten Strafrechtsschutzes?", Jura 1998, 456 - 462.