Einführung in die Theorien der internationalen Beziehungen/ Konstruktivismus


Konstruktivismus
Erkenntniskategorien
  • - Interessenkonstruktion
  • - Identitäten und Ideale
  • - Veränderungen der Struktur des Staatensystems
Grundannahmen
  • - Die Struktur des internationalen Systems ist nicht unveränderlich, sondern wird von den Akteuren beständig konstruiert.
  • - Die selbst geschaffene Struktur wirkt sich wiederum auf die Akteure aus, die ihr Verhalten danach ausrichten.
  • - Wandel ist in diesem sich selbst beständig rekonstruierenden System durch Einzelakteure möglich, muss aber bestimmten Bedingungen genügen.
Zentrale Akteure
  • - Individuen
  • - Gruppen
  • - Staaten
  • - Zwischenstaatliche Institutionen (mittelbar)
Vertreter/innen
  • - Alexander Wendt
  • - Martha Finnemore
  • - Friedrich Kratochwil
  • - Christian Reus-Smit

7. Konstruktivismus in den internationalen Beziehungen Bearbeiten

In den 1980er Jahren beherrschten vor allem zwei Debatten das Forschungsfeld der internationalen Beziehungen. Auf der einen Seite diskutierten strukturelle oder Neo-Realisten und Institutionalisten oder Neo-Liberale die Möglichkeiten der Staatengemeinschaft für Kooperation. Die Realisten vertraten eine pessimistischere Sichtweise und gingen davon aus, dass Kooperation zwischen Staaten nur dann stattfinde, wenn jeder Staat für sich einen relativen Gewinn daraus zieht. Das heißt, er muss mehr aus einem Handel ziehen als sein Handelspartner, andernfalls beende er die Kooperation. Die Institutionalisten hingegen glaubten, es reiche für die Staaten aus, wenn sie absolute Gewinne erzielten. Staaten würden so lange kooperieren, wie sie für sich unter dem Strich keinen Verlust bei dem Geschäft machten ("Geschäft" ist hier keineswegs nur ökonomisch gemeint, sondern kann z.B. auch Abrüstungsverträge oder grenzüberschreitende Umweltschutzverträge umfassen). Aufgrund der Ähnlichkeit in ihren Grundannahmen, die in der Annahme einer anarchischen Staatenwelt und dem, neben anderem, daraus hervogehenden Prinzip der Selbsthilfe aller Staaten bestanden, wurde die Diskussion zwischen den beiden Schulen auch "Neo-Neo-Debatte" genannt.

Die andere Diskussion fand zwischen Rationalisten und Vertretern der Kritischen Theorie statt. Letztere hielten den Rationalisten vor, sie wären sich der ihrer Theorie inneliegenden, aber versteckten normativen Aussagen nicht bewusst. Und Erstere behaupteten, die Kritische Theorie würde keine wirklich verwertbaren Erkenntnisse liefern. Aus diesem Streit bildeten sich im Laufe der 1990er Jahre, also nach Ende des Kalten Krieges, zwei neue Debatten heraus. Christian Reus-Smit (2005: 188) setzt in die Mitte dieser Debatten den aus der kritischen Theorie hervorgegangenen Konstruktivismus. Dieser stritt sich mit den Rationalisten auf der einen Seite, und auf der anderen Seite versuchte er sich gegen die ihm zugrunde liegende Kritische Theorie abzugrenzen.

In diesem Kapitel wird der Konstruktivismus als Theorie der Internationalen Beziehungen beschrieben. Seine grundlegenden Annahmen werden vorgestellt, und einige sich daraus ergebende Konsequenzen für die wissenschaftliche Betrachtung der Staatengemeinschaft erörtert.

Der Konstruktivismus ist keine einheitliche, geschlossene Theorie. Durch die Arbeiten Wendts etablierte sich keine "Orthodoxie", sondern es gibt viele verschiedene konstruktivitische Ansätze, die jedoch vom 1992 erschienen Artikel von Alexander Wendt mit seinem vielzitierten Ausspruch "Anarchy is what the states make of it" erheblich beeinflusst und geprägt wurden. Zentraler Ausgangspunkt von Wendt ist die Auseinandersetzung mit dem Neorealismus nach Kenneth Waltz. Auch Wendt versucht Aussagen über das Internationale System zu machen und bewegt sich in seiner Analyse auf dieser (dritten) Ebene (siehe dazu Kapitel: Neorealismus). Die Struktur dieses Systems ist Ausgangspunkt für seine Erklärungen, weshalb man seinen Ansatz einen strukturalistischen Ansatz nennt. Der entscheidende Unterschied ist der, dass nicht nur materielle, sondern vor allem auch immaterielle Faktoren eine Rolle spielen. Seine Erkenntnisse fasste er in seinem Werk Social Theory of International Politics zusammen.


Akteure und Struktur Bearbeiten

Ausgangspunkt der Überlegungen zu der Frage, wie "Struktur" geschaffen sein muss, ist das sog. Akteurs-Struktur-Problem. Das Handeln von Akteuren ist immer in Strukturen eingebettet, weshalb man - um soziale Phänomene zu erklären - entweder sich auf die Akteure und deren Merkmale oder aber auf die Struktur beziehen muss. Wendts Erklärung ist eine strukturalistische. Wendt wirft ein, dass der Neorealismus sich zwar auf die Struktur als wichtigstes Element des Internationalen Systems beruft, letztlich aber in seiner Ontologie - also wie er die Beschaffenheit der "Realität" beschreibt - individualistisch ist. Denn die Struktur leitet sich von den verschiedenen Machtmitteln der Staaten ab, welche bestimmen, ob das System bi-uni- oder multipolar ist. Der Neorealismus habe sich also vom klassischen Realismus dahingehend nicht wirklich frei gemacht, der ganz offen die "Natur des Menschen" für das internationale System verantwortlich macht. Demgegenüber steht der sog. holistische Ansatz, der umgekehrt das bestimmende Element auf der obersten Ebene sozusagen sieht. Beispielsweise Weltsystemansätze, die jegliches Verhalten von Akteuren auf die kapitalistische Weltordnung zurückführen. Wendt sagt, dass beide Ansätze zu kurz greifen. Entweder Akteure sind Grundeinheiten und bestimmen die Struktur (ontologischer Individualismus), oder aber Strukturen gehen den Akteuren voraus (ontologischer Strukturalismus). Wendts Vorschlag zur Überwindung dieses Dilemmas ist der, dass Akteure und Strukturen sich gegenseitig bedingen. Dies bedeutet, dass Strukturen Spielregeln, Interessen und Werte von Akteuren konstituieren, umgekehrt Akteure diese Strukturen aber immer wieder durch ihr Handeln reproduzieren und aufrechterhalten, aber auch verändern können.

Konsequenzen für staatliches Handeln in einer "anarchischen" Struktur Bearbeiten

Die Attraktivität des Konstruktivismus resultiert u.a. aus der Tatsache heraus, dass er im Gegensatz zu den anderen bis dato vorherrschenden "großen" Theorien den Wandel von Interessen und Werten erklären konnte (man denke an die radikale Veränderung des internationalen Systems nach dem Ende des Kalten Krieges). Um die "Anarchie" im internationalen System zu analysieren geht er zunächst davon aus, dass Institutionen sehr wohl in der Lage sind, Identitäten und Interessen zu verändern. Akteure handeln gegenüber Objekten und anderen Akteuren auf der Basis von Bedeutungsgehalten, welche wiederum kollektiv geteilt werden und damit strukturell dem Handeln zugrunde liegen. Bedeutungsgehalte geben Identitäten und Erwartungen vor, an denen sich die Akteure orientieren. Diese Identitätsbildung von Akteuren ist ein zentraler und wichtiger Aspekt, da sie auf die Art auch ihre Interessen identifizieren und außerdem Institutionen relativ stabile Gebilde oder eben "Strukturen" dieser Interessen und Identitäten darstellen. Identität und Institution bedingen sich gegenseitig.

Ausgehend davon kritisiert Wendt die neorealistische Annahme, dass aus dem Fehlen übergeordneter Instanzen zwingend ein internationales Selbsthilfesystem entstehe welches nur durch Machtpolitik überlebbar sei. Selbsthilfe ist nach Wendt nur eine mögliche Institution, die sich aus der Anarchie heraus bildet. Anarchie habe also nicht nur eine zwingende Logik, mit der sie die Struktur des internationalen Systems determiniere. "Anarchy is what the states make of it". Die Strukturen die sich aus der Anarchie heraus bilden können nennt Wendt die Hobbes´sche (Feindschaft), Locke´sche (Rivalität) und Kant´sche (Freundschaft). Je höher der Grad an gemeinsam geteilten Ideen, desto stärker ausgeprägt ist die Kooperation (bis hin zu einer internationalen Gesellschaft).

Allein die Hobbes´sche Struktur führe zu dem, was der Neorealismus als gegebene Struktur annimmt ("Homo Homini Lupus"). Diese Struktur sei für Wendt vor allem in die Zeit vor dem westfälischen Frieden (1648) anzusiedeln. Mit der Herausbildung eines modernen Staatensystems auf Basis von souveränen Staaten, die Existenz- und Eigentumsrechte gegenseitig anerkennen, sei eine weitere Ebene internationaler Struktur erreicht worden: Die Locke´sche. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges wiederum begann der Aufstieg von internationalen Organisationen und eine Struktur, die Sicherheit als gemeinsames Gut ansieht und nicht als Sache der einzelnen Staaten. Ein solches System hatte Kant bereits in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" beschrieben, weshalb Wendt diese Struktur die Kant´sche nannte. Auch wenn er betont, dass diese erst im Ansatz zu erkennen sei.

Wandel im internationalen System Bearbeiten

Wandel kann auf vielerlei Wegen in diesem Verständnis geschehen. Ändern sich die Identitäten von Akteuren, so wirkt das auf ihre Interessen, auf Institutionen und auf die Struktur. Umgekehrt können radikale Veränderungen im Weltsystem die Strukturen dermaßen verändern, dass sich rückwirkend die Identitäten und Interessen der Akteure verändern. Akteure reproduzieren die Struktur durch ihr Handeln, bestärken und verändern ihre Identitäten wiederum durch Interaktion mit anderen Akteuren. Für Staaten heißt dies, dass sie ihre Identität vor allem durch die Auseinandersetzung mit anderen Staaten erfahren und konstruieren; sowohl auf staatlicher, wie internationaler Ebene. Grundlage der staatlichen Identität sind vor allem bestimmte Kennzeichen, wie sein politisches System, das "Volk", das Territorium, sowie Handlungsmotivationen wie Wohlfahrt und Existenzsicherung. Dadurch können Staaten als einheitliche Akteure verstanden werden (gerade aus konstruktivistischer Sicht kann die "Einheitlichkeit" eines Staates durchaus kritisiert werden, was es auch wird). Auf Internationaler Ebene führen dann Soziales Lernen und Imitation zur Herausbildung kollektiver Identitäten. Dabei nehmen Staaten nicht einfach Informationen des anderen auf, sondern reagieren auch auf diese zum Beispiel durch Rollenzuweisungen, welche die anderen wiederum unter Umständen sogar bereitwillig aufnehmen. So konstituieren alle Staaten der Welt in gegenseitiger Interaktion sich gegenseitig und bestimmen ihre Wesensmerkmale.

Durch Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeiten), gemeinsames Schicksal, Ähnlichkeiten (z.B. Teilen gemeinsamer Werte) und Selbstbeschränkung kann die Kant´sche Struktur aufgebaut werden. Wendt prognostiezierte in späteren Arbeiten sogar, dass in 200-300 Jahren ein Weltstaat unvermeidbar sei.

Epistemologie Bearbeiten

Wendt konzentriert sich voll und ganz auf die ontologische Perspektive, weshalb die Frage, wie man denn nun zu Erkenntnis gelangt, unbefriedigt offen gelassen wird. Aus konstruktivistischer Sicht sind alle Prozesse des Erkennens und Wahrnehmens diesbezüglich interessant. Vor allem die Sprache. Durch Sprache interagieren wir und durch die Wortwahl, sowie die Definitionen, die wir ihnen geben, strukturieren wir unsere Realität. Jedoch wird Realität auch nur durch Sprache zugänglich, deswegen sei es kaum möglich, die Realität ohne eine vorher festgelegte Theorie zu begreifen, die uns einschränkt. Wendt hat jedoch stets versucht positivistische Epistemologie und konstruktivistische Ontologie zu verbinden.


Interne Weiterentwicklung und Kritik Bearbeiten

Auch wenn Wendt die Akteur-Struktur-Beziehung als wechselseitig identifiziert hat, fokussiert er letztlich vor allem die Strukturen. Nicholas Onuf und Friedrich Kratochwil stellen als entscheidendes Bindeglied zwischen Akteur und Struktur die Regeln und Normen heraus. Sie sind also nicht Teil der Struktur, sondern wirken separat. Während für Wendt der Ausgangspunkt seiner Überlegungen über das internationale System die Struktur ist, ist er für Onuf und Kratochwil eben Regeln und Normen. Dadurch kommen beide Parteien bezüglich der Beschaffenheit von "Anarchie" zu völlig verschiedenen Ansichten. Es wird argumentiert, dass es nämlich sehr wohl "Ordnung" im "anarchischen internationalen System" gebe. Denn Hierarchie sei nicht die einzige Herrschaftsform, allein durch die Machtdifferenzen der Staaten entstehe eine gewisse Ordnung. Darüber hinaus gebe es weiter Herrschaftsformen, durch welche "Ordnung" im internationalen System identifizierbar sei.

Größter Kritikpunkt ist die Tatsache, dass Wendt den Staaten Einheitlichkeit und damit bestimmte Merkmale zuweist, um mit ihnen auf der dritten - der internationalen - Ebene gedanklich agieren zu können. Faktisch - so Kritiker - handeln jedoch Individuen im staatlichen strukturellen Kontext. Um staatliche Interessen und Handlungen erklären zu können, dürfe man die Prozesse dahinter nicht in der "Black Box" verschwinden lassen.

Insgesamt wurde Wendts Sozialkonstruktivismus eher als Ergänzung, denn als Widerlegung des Mainstreams aufgefasst und dankbar aufgenommen. Vor allem auch weil er, je nachdem wie man ihn aufnimmt, auch durchaus moderat daher kommt, ganz im Gegensatz zu einer radikalen und konsequenten Denkweise des Konstruktivismus, der jedwede Erkenntnistheorie stark herausfordert.

Literatur Bearbeiten

  • Wendt, Alexander (1992): Anarchy is What States Make of it. The Social Construction of Power Politics, in: Inernational Organisation, 46, 2, Spring, S. 391-425.
  • Wendt, Alexander (1999). Social Theory of International Politics. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Finnemore, M. (1996). National Interests in International Society. Ithaca: Cornell University Press.

empfehlenswert auch als Sammelband: P. J. Katzenstein (ed.) (1996). The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics. New York: Columbia University Press.

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