Einführung in die Funktionentheorie/ Folgen und Reihen mit komplexen Gliedern
Einleitung
BearbeitenDie Lehre von den Zahlenfolgen gehört schon "im Reellen" nicht gerade zu den unterhaltsamsten und aufregendsten Gebieten der Mathematik, und daran ändert sich auch nichts, wenn man sie auf komplexe Zahlen ausdehnt. Aber erst durch die theoretische Durchdringung der Zahlenfolgen ist eine gründliche und sichere Grundlegung der Analysis (Differential- und Integralrechnung) und der Funktionentheorie (Analysis komplexer Funktionen) möglich geworden. Auch haben dadurch die Analysis und die Funktionentheorie erst die begriffliche Schärfe und die Konsistenz der Beweisführung gewonnen, die seit Euklid für die älteren Gebiete der Mathematik so kennzeichnend sind und als unerlässlich gelten.
Um den Umfang dieses Buches nicht zu groß werden zu lassen, habe ich schweren Herzens auf die Beweise der Lehrsätze verzichtet, obwohl ich weiß, dass dadurch ein Teil fehlt, der für die Schulung mathematischen Denkens unverzichtbar ist. Ich erwäge jedoch, bei Interesse und entsprechender Nachfrage die Beweise in einem Anhang zusammenzustellen.
Das Studium der komplexen Zahlen hat gezeigt, dass man mit ihnen wie mit reellen Zahlen rechnen kann. Dabei gibt es lediglich zwei Ausnahmen:
- Bei Potenzen mit irrationalen Exponenten gelten die bekannten Rechenregeln nicht,
- die Kleiner/Größer-als-Relation kann nur auf die Beträge
der komplexen Zahlen angewendet werden.
Im Übrigen aber gilt, dass es bei allen mit Buchstabengrößen angestellten Berechnungen gleichgültig ist, ob ein darin auftretender Buchstabe z eine reelle oder eine komplexe Zahl darstellt.
So gelten z. B. der binomische Lehrsatz, die Lehre von den Determinanten und die Verfahren zur Lösung von Systemen linearer Gleichungen unverändert auch "im Komplexen".
Dies lässt vermuten, dass auch andere Gebiete der Mathematik auf komplexe Zahlen ausgedehnt werden können. Dass dies tatsächlich der Fall ist, wird in diesem Buch zunächst für die unendlichen Zahlenfolgen und Reihen gezeigt. Damit wird – wie sich erweisen wird – der Mathematik ein neues und überaus fruchtbares Gebiet erschlossen, das auch von großer praktischer Bedeutung ist.
Oft ist mit der Zulassung komplexer Zahlen auch eine erhebliche Vereinfachung und Abrundung der Theorie verbunden. Beispiele dafür sind die (nun) unbeschränkte Gültigkeit des Fundamentalsatzes der Algebra und die Tatsache, dass das Wurzelziehen ausnahmslos möglich ist, wenn man das Zahlensystem um die komplexen Zahlen erweitert.
Schließlich werden sich im Folgenden überraschende Zusammenhänge zwischen wichtigen Zahlen (e und π) sowie zwischen ganz unterschiedlichen Funktionen zeigen.
Unendliche Zahlenfolgen mit komplexen Gliedern
BearbeitenDefinition Zahlenfolge
BearbeitenWenn durch irgendeine Vorschrift jeder natürlichen Zahl 1, 2, 3, ... eine bestimmte Zahl z1, z2, z3, ... zugeordnet ist, so bilden diese Zahlen eine (unendliche) Zahlenfolge.
Eine Zahlenfolge (kurz auch Folge genannt) wird bezeichnet mit
Beispiele für komplexe Zahlenfolgen sind:
Eine Zahlenfolge (zn) heißt beschränkt, wenn es eine positive Zahl S gibt, sodass für alle n
ist.
S heißt dann eine Schranke für die Beträge der Glieder der Folge.
Zur Veranschaulichung einer Zahlenfolge kann die dazu gehörige Punktfolge in der komplexen Zahlenebene dienen.
Nullfolgen
BearbeitenDefinition Nullfolge
BearbeitenEine Zahlenfolge wie z. B.
deren Glieder mit wachsender Nummer n sich unbeschränkt der Null nähern, heißt eine Nullfolge. Doch was bedeutet "sich unbeschränkt der Null nähern"? Es gibt einige sehr viel schlechtere Beschreibungsweisen des damit gemeinten Sachverhalts, aber nur eine bessere, die wirklich aussagekräftig ist und sich durchgesetzt hat. Diese lautet:
Eine Zahlenfolge (zn) heißt Nullfolge, wenn sich für jede positive Zahl ε immer eine Zahl n0 angeben lässt, sodass für
ist.
Im obigen Beispiel ist
und es ist
ist. Diese Gleichung liefert für jeden Wert von ε - und sei er noch so klein - eine Nummer n0, von der an stets
ist.
Die zu den Zahlen zn mit n >= n0 gehörigen Punkte der Zahlenebene liegen alle "innerhalb einer ε-Umgebung von 0", das heißt, innerhalb eines Kreises um 0 mit dem Radius ε.
Sätze über Nullfolgen
BearbeitenEs gelten im Wesentlichen die gleichen Sätze wie für reelle Nullfolgen. Sie lassen sich mit etwas "Epsilontik" leicht beweisen.
1. Jede Nullfolge ist eine beschränkte Zahlenfolge.
2. Ist (zn) eine Nullfolge und (yn) irgendeine beschränkte Zahlenfolge, so ist auch die Folge (z 'n) mit den Gliedern
eine Nullfolge.
3. Es sei (zn) eine Nullfolge und (z 'n) eine zu untersuchende Zahlenfolge. Ferner sei die Ungleichung
wobei K eine bestimmte positive Zahl ist, für "fast alle n " (das soll heißen: für alle n >= n0) erfüllt, dann ist auch (z 'n)eine Nullfolge.
4. Sind (zn) und (z 'n) zwei Nullfolgen, so sind auch die Folgen mit den Gliedern
Nullfolgen. Dafür sagt man kurz: Nullfolgen dürfen gliedweise addiert, subtrahiert und multipliziert werden.
Definition Konvergenz einer Zahlenfolge
BearbeitenEine Zahlenfolge (zn), zu der es eine Zahl ζ von der Art gibt, dass die Folge
eine Nullfolge ist, heißt konvergent mit dem Grenzwert (oder Limes) ζ. Diesen Sachverhalt beschreibt man auch so:
(Der erste Teil wird gelesen: zn geht gegen ζ, wenn n gegen unendlich geht, das heißt: unbeschränkt wächst.)
Ersetzt man oben den Begriff der Nullfolge durch deren Definition, so kann man auch sagen:
Eine Zahlenfolge (zn) konvergiert gegen ζ, wenn man für jede beliebige (oder beliebig kleine) positive Zahl ε eine Zahl n0 angeben lässt, sodass für alle n >= n0 (oder "für fast alle n ")
ist.
Sätze über konvergente Zahlenfolgen
Bearbeiten1. Wenn eine Zahlenfolge gegen eine Zahl ζ konvergiert, kann sie nicht gleichzeitig gegen eine andere Zahl η konvergieren (Eindeutigkeit der Konvergenz).
2. Eine konvergente Zahlenfolge ist stets eine beschränkte Zahlenfolge.
3. Sind (zn) und (z 'n) konvergente Folgen mit den Grenzwerten ζ bzw. ζ', so sind auch die Folgen (zn + z 'n) und (zn - z 'n) konvergent mit den Grenzwerten ζ + ζ' bzw. ζ - ζ'.
Kurzfassung: Aus
4. Unter den gleichen Voraussetzungen wie oben gilt ferner
und wenn außerdem alle
5. Jede durch Umordnung einer konvergenten Zahlenfolge (zn) entstandene Zahlenfolge und jede Teilfolge (z 'n) von (zn) ist ebenfalls konvergent und hat denselben Grenzwert wie diese.
6. Eine Zahlenfolge (zn) werde in zwei Teilfolgen (z 'n) und (z ' 'n) zerlegt. Wenn diese beiden konvergent sind und denselben Grenzwert ζ haben, so ist auch (z n) konvergent mit dem Grenzwert ζ.
7. Ist (zn) eine konvergente Zahlenfolge mit dem Grenzwert ζ und geht die Folge (z 'n) aus ihr durch endlich viele Änderungen hervor, so ist auch (z 'n) konvergent mit dem Grenzwert ζ.
Definition divergente Zahlenfolgen
BearbeitenJede Zahlenfolge (zn), die nicht gegen einen bestimmten (endlichen) Wert ζ konvergiert, heißt divergent.
Konvergenzkriterien
Bearbeiten1. Eine Zahlenfolge
wobei (xn) und (yn) reelle Zahlenfolgen sind, ist genau dann konvergent, wenn sowohl (xn) als auch (yn) konvergent sind. Dann ist
2. Eine Zahlenfolge (zn) ist genau dann konvergent, wenn sich für (jede noch so kleine) positive Zahl ε eine Zahl n0 angeben lässt, sodass
ist, wenn
Unendliche Reihen mit komplexen Gliedern
BearbeitenUnter einer unendlichen Reihe versteht man – wie im Reellen – eine Summe mit unbeschränkt vielen Summanden, die nach einer bestimmten Vorschrift (Bildungsgesetz) berechnet wurden. Diese Summanden sind jetzt komplexe Zahlen:
Da eine Summe mit unbeschränkt vielen Summanden nicht berechnet werden kann, ist dieser Ausdruck zunächst unbestimmt. Zur Behebung dieser Schwierigkeit wird der Begriff der Teilsumme der unendlichen Reihe eingeführt. Die Teilsummen sind der Reihe nach:
Sodann wird die Folge der Teilsummen auf ihre Konvergenz hin untersucht und gegebenenfalls ihr Grenzwert bestimmt. (Auf diese Weise wird das Problem der Summation von unbeschränkt vielen Summanden auf die Grenzwertbestimmung einer Zahlenfolge zurückgeführt.)
Wenn die Folge der Teilsummen
gegen einen Grenzwert S konvergiert, dann bezeichnet man die unendliche Reihe als konvergent, anderenfalls als divergent. Im ersten Fall nennt man den Grenzwert S der Folge den "Wert der unendlichen Reihe" und schreibt dies:
Eine unendliche Reihe komplexer Zahlen besteht aus einer unendlichen Reihe reeller Zahlen (den Realteilen der Glieder der Reihe) und aus einer unendlichen Reihe imaginärer Zahlen (den mit i multiplizierten Imaginärteilen der Glieder):
Daher gilt:
Eine Reihe mit komplexen Gliedern ist genau dann konvergent, wenn die aus den reellen bzw. aus den imaginären Teilen ihrer Glieder gebildeten Reihen konvergent sind. Wenn die Werte der beiden Teilreihen s bzw. s 'sind, hat die ursprüngliche Reihe den Wert S = s + i s' .
Ein analoger Satz gilt für die absolute Konvergenz einer Reihe mit komplexen Gliedern. (Eine Reihe mit komplexen Gliedern heißt absolut konvergent, wenn auch die Reihe konvergiert, deren Glieder gleich dem Betrag der entsprechenden Glieder der ursprünglichen Reihe sind. – Die neue Reihe hat lauter positive reelle Glieder.)
Komplexe Potenzreihen
BearbeitenEine komplexe Potenzreihe ist eine Reihe von der Art
wobei die Koeffizienten an sowie z und z0 beliebige komplexe Zahlen sind. Dabei werden die Koeffizienten an sowie die Zahl z0 als konstant angesehen, z dagegen als variabel.
Diese Reihe wird auch als Potenzreihe in (z – z0) bezeichnet oder als Potenzreihe mit dem Mittelpunkt z0.
Ob eine Potenzreihe (oder die Folge ihrer Teilsummen) konvergiert, hängt einerseits von den Koeffizienten an, andererseits im Allgemeinen auch von z ab. Ein Wert (oder ein Punkt) z, für den die Potenzreihe konvergiert, heißt Konvergenzpunkt; ein Wert, für den sie divergiert, heißt Divergenzpunkt der Reihe. Es gibt Reihen, die überall (d. h. für alle Werte z oder in jedem Punkt der Zahlenebene) konvergieren und solche, die nirgends (außer in z0) konvergieren.
Für jede Reihe der oben angegebenen Art, die weder überall noch nirgends (außer in z0) konvergiert, gibt es eine bestimmte positive Zahl r derart, dass die Reihe für jedes z,
für das
für jedes z, für das
Die den Zahlen z entsprechenden Punkte liegen innerhalb bzw. außerhalb des Kreises um z0 mit dem Radius r. Dieser Kreis heißt der Konvergenzkreis der Reihe, sein Radius heißt Konvergenzradius.
Für die Punkte auf dem Rand des Konvergenzkreises sind keine allgemeinen Aussagen möglich. Sie erfordern von Fall zu Fall eine eigene Untersuchung.
Der Wert einer Potenzreihe ist eine Funktion der Variablen z; ihr Definitionsbereich ist der Konvergenzkreis der Reihe. Darüber mehr im 2. Teil.