Drei Urzeugungen. Thomas Manns Welterklärung.

Der Beitrag ist in der ersten Fassung in der Deutschen Nationalbibliothek digital archiviert. [4] Spätere Ergänzungen konnten dort nicht nachgetragen werden.

H.-P. Haack (2010)


Urzeugung (Generatio spontanea) bezeichnet die naturwissenschaftlich widerlegte Annahme, dass Leben spontan und zu jeder Zeit aus unbelebter Materie entstehen kann. Thomas Mann verwendet Urzeugung im Sinne des Uranfänglichen, für die numinose Entstehung von Materie, Leben und Geist. Diese Philosophie lässt er von einer Nebenfigur in «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull» vortragen.

Nachtzug nach Lissabon Bearbeiten

Der Kellner Krull alias Marquis de Venosta, unterwegs im Nachtzug nach Lissabon, sitzt im Speisewagen einem Paläozoologen gegenüber, der sich als Professor Kuckuck vorstellt. Der Gelehrte findet Gefallen an der Reisebekanntschaft und gerät ins Plaudern über das Universum und über vergleichende Anatomie. Dabei erweist sich der adrette Marquis als ein aufmerksamer, beeindruckbarer Zuhörer. Am Ende des kleinen Privatseminars verrät Professor Kuckuck seine Welterklärung. Zuvor blickt er sich flüchtig um, als gebe er ein höheres Geheimnis preis, ehe er mit einer gewissen Vertraulichkeit seinem Gegenüber eröffnet: Es habe nicht eine, sondern drei Urzeugungen gegeben: Die Entstehung des Seins aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und das Hinzukommen von einem Dritten: Das Wissen von Anfang und Ende. Dieses, nur dem Menschen gegebene Wissen, unterscheide ihn von aller Natur, der organischen und dem bloßen Sein.

Wissen von Anfang und Ende bedeutet historisches Bewusstsein. In dem nächtlichen Eisenbahn-Exkurs steht es für Reflexion und damit für Geist. Geist wird vom Verfasser dieses Beitrags als literarisches Synonym genommen für die Wechselwirkungen zwischen Imagination und Erkennen. Erkannte Zusammenhänge werden mittels Symbolen (Wörter, Zeichen) beschrieben. Symbolisches Denken, Reflexion und Vorstellung setzen die Befähigung zu abstraktem Denken voraus.


Vom Homo sapiens der späten Altsteinzeit zum modernen Homo sapiens Bearbeiten


Tiere abstrahieren nicht.
John Locke (1690)
Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche;
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.[1] Goethe (1783)
Abstraktion ist die Abbreviatur
der Erscheinung. (2012)


Homo sapiens stammt aus Afrika. Die ältesten Knochenfunde sind 160.000 Jahre alt (Homo sapiens idaltu). In Schädel (Hirnvolumen) und Skelett glich er bereits dem heutigen Menschen. Von Ostafrika aus besiedelte Homo sapiens zunächst Asien und Australien. Von Asien gelangte er vor etwa 40.000 Jahren nach Europa.[2] Der frühe europäische Homo sapiens wird auch Cro-Magnon-Mensch genannt, nach dem Fundort Cro-Magnon in Südfrankreich.


Artefakte, die intellektuelles Abstraktionsvermögen belegen, sind seit der späten Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) nachweisbar.

Kultur beginnt vor etwa 40.000 Jahren in der späten Altsteinzeit, im Aurignacien. Das Zeitalter ist definiert durch die handwerksmäßige Herstellung von Feuersteinklingen. In das Aurignacien fallen die Höhlenmalereien von Chavet, Lascaux und Altamira. Auch Statuetten sind aus dem Aurignacien bekannt, wie der Löwenmensch und die Venus vom Hohlen Fels aus der Schwäbischen Alb sowie Flöten aus Knochen und Elfenbein. Grabbeigaben im Aurignacien sprechen für Jenseitsvorstellungen.

Voraussetzung für Kunst und für Jenseitsvorstellungen war die zerebrale Leistung der Abstraktion. Sie ist das Ergebnis einer Mutation.[3] Die Ausbreitung von abstraktem Denken entspricht der dritten Urzeugung, über die Thomas Mann Professor Kuckuck räsonieren lässt.


Abstraktionsvermögen als evolutionärer Vorteil

Wenn zwei Arten, die biologisch (zoologisch) einander nahe stehen, dasselbe Territorium beanspruchen, führt diese Rivalität zum Untergang einer der beiden Arten, nachdem bei der anderen eine vorteilhafte Mutation aufgetreten ist.

Der aus Asien zugewanderte Homo sapiens traf in Europa auf den Neandertaler. Diese Menschen waren erfolgreiche Jäger, muskelkräftiger als die Ankömmlinge, und ihr Hirnvolumen war größer als das des Homo sapiens.

Revieranspruch ist ein Ur-Instinkt, der an Vitalität bis heute nichts eingebüßt hat. Bei ihrer Landnahme vor ca. 40.000 Jahren erwiesen sich jeweils die Homo-sapiens-Horden als Sieger, deren Anführer vorausschauend planen konnten. Das Ergebnis war eine intensive Auslese, sowohl innerartlich als auch gegenüber dem Neandertaler.

Anfangs behaupteten sich vermutlich die Neandertaler. Nachdem aber nur noch strategisch klug geführte Horden der Eindringlige übrig geblieben waren, wurde die Urbevölkerung zum Verlierer. Die Verdrängung zog sich über etwa 10.000 Jahre hin. Seit etwa 30.000 Jahren gilt der Neandertaler als ausgestorben.


Abstraktionsvermögen ermöglichte die neolithische Revolution

In der Jungsteinzeit setzte vor etwa 10.000 Jahren eine technisch-kulturelle Beschleunigung ein, die als neolithischen Revolution bezeichnet wird. Seither sind Menschheitswissen und -leistungen exponential gewachsen. Vorangegangen waren bis zum Ende der mittleren Altsteinzeit 2,5 bis 3 Millionen Jahre ohne wesentlichen technologischen Fortschritt. In der Jungsteinzeit erfolgte in wenigen tausend Jahren die Kultivierung von Pflanzen und Domestizierung von Tieren.

Die Landwirtschaft erforderte den Kalender (neolithische Kalenderrevolution). Aus Horden waren Klans entstanden, zusammengehalten sowohl verwandtschaftlich als auch durch gemeinsame Vorstellungen. In diesen Stammesverbänden wurden nicht nur Fertigkeiten von Generation zu Generation weitergegeben, sondern auch Wissen. Als Herrschaftswissen schuf es soziale Rangordnungen und ermöglichte die Entstehung von Privateigentum an Produktionsmitteln.


Verlust oder Fehlen von Abstraktionsvermögen bei intakter Merkfähigkeit

Eine psychopathologische Gesetzmäßigkeit besagt, dass phylogenetisch spät entstandene zerebrale Leistungen störanfälliger sind als phylogenetisch frühe. Für die evolutionär späte Entstehung der kognitiven Abstraktion spricht, dass bei Schizophrenie die Fähigkeiten, Begriffe nach Kategorien zu ordnen sowie Metaphern zu verstehen (Analogieschlüsse), verloren geht. Bei angeborener Intelligenzminderung fehlen diese Leistungen. Eine empirische Untersuchung hat gezeigt, dass nichtautistische Studenten die metaphorische Bedeutung Sprichwörtern erfassen und erläutern können, wogegen Autisten Sprichwörter nur wörtlich verstehen.[4] Kinder unter 7 Jahren erfassen Metaphorik noch nicht im Sinne von Abstrahieren. Ab diesem Alter erst hat die neuronale Verschaltung zwischen den Sprachzentren Broca und Wernicke ihre maximale Quantität erreicht. Diese funktionellen, synaptisch verfestigen Verbindungen (Faser-Struktuern) sind mit bildgebenden Verfahren nachweisbar.[5] Komplexe Sprache artikuliert komplexes Denken. Sucht man nach einem morphologischen Substrat menschlichen Abstaktionsvermögens, so liesen sich diese synaptisch stabilisierten Strukturen dafür in Anspruch nehmen.


Sprache versus Vokabular

Biologisch wird der Mensch der Familie der Menschenaffen (Hominiden) zugerechnet. Sprache gilt manchen Anthropologen als Art-Merkmal des Menschen gegenüber nichtmenschlichen Primaten, anderen wiederum nicht. Man könne auch Schimpansen Sprache beibringen. Die Psychologen Beatrice und Robert Garden von der Universität Nevada brachten der Schimpansin Washoe 250 Handzeichen der amerikanischen Zeichensprache bei.[6] In einigen Fällen verwendete Washoe Sprache auch kreativ, sie kreierte aus einfachen Wörtern neue Bedeutungen, etwa „öffnen essen trinken“, was „öffne den Kühlschrank“ bedeuten sollte. Eine ganz besondere Eigenheit von Washoe war, dass sie einen Jungaffen namens Loulis mehr oder weniger unbewusst bis zu 60 Vokabeln beibrachte und mit ihm so kommunizierte. Ähnlich beeindruckend, aber nicht durch Video belegt, sind Vorkommnisse, in denen Washoe auch Gefühle gegenüber ihren Pflegern ausgedrückt hat, die keinerlei Belohnung hervorbrachten, sondern offensichtlich als Kommunikation nach außen und als Expression zu deuten sind.[7] Es dürfte sich hierbei jedoch um Dressur gehandelt haben, um die Konditionierung einer Vielzahl von Pawlowschen Reflexen. Washoe ist am 30. Okt. 2007 im Alter von 42 Jahren verstorben.[8] Dass domestizierte und in Gefangenschaft ghaltene Tiere menschliche Gesten verstehen, sogar die Bedeutung einzelner Wörter (z. B. Kommandos für Hunde, Elefante, Delphine), war nicht neu, auch nicht, dass Tiere, die in menschlicher Gemeinschaft leben, ihre Bedürfnisse in Bewegungsmustern signalisieren. Eine Analogie zur menschlichen Sprache ist das kaum.

Frühformen menschlichen Sprechens (versus Sprache) nur mit Wörtern und agrammatisch dürften entwicklungsgeschichtlich älter sein als Abstraktionsvermögen. Abstraktionsvermögen revolutionierte die Sprache und machte sie zum Medium für diskursive Deduktion und Konklusion.

Die Paläoanthropologen, die den Menschen durch sein Sprachvermögen definieren, verwechseln Lautbildung mit Sprache. Sie meinen, Sprache gründe in Anatomie und Topographie des menschlichen Kehlkopfs. Dass (z. B.) der Morsecode Lautbildung ersetzen kann, wird von ihnen gedanklich ausgeklammert.


Ansätze von kausalem Denken bei nichtmenschlichen Primaten

Wild lebende Schimpansen, zumindest einige unter ihnen, können kurzgliedrige Kausalketten von wiederkehrenden Konstellationen erkennen, sich einprägen und in analogen Situationen danach handeln. Das zeigt sich vor allem bei Nahrungserwerb und Spieltrieb. Diese Denkabläufe sind an Gegenständlichkeit gebunden. Sie verfestigen sich durch die Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg.

Doch planende Kreativität ist bei Schimpansen nicht nachgewiesen worden. Sie können nicht durch antizipierende Imagination etwas ersinnen (erfinden), dessen Nutzen, Komfort oder Unterhaltungswert für ihre Artgenossen erst ersichtlich wird, nachdem das Ersonnene verwirklicht worden ist.


Nicht die Kulturleistungen definieren den modernen Menschen, den die Evolution vor etwa 40.000 Jahren hervorbrachte, sondern sein Abstraktionsvermögen.

Geschichtlich verdanken sich Kultur und Technik dem Abstraktionsvermögen Einzelner. Der Mensch ist kein Kulturprodukt, sondern umgekehrt. Abstraktes Denken, das bei Schizophrenie verloren geht und bei intellektueller Minderbegabung fehlt, ist - so die hier vorgetragene These - genetisch und neuronal determiniert. Damit bekommt kognitive Abstraktion den Rang eines biologischen Merkmals.

Die Grundlagenforschung liefert hierfür Indizien: Der funktionelle single-nucleotide polymorphism (SNP) rs6265 [9] geht bei Trägern dieser Variation gegenüber Nicht-Trägern mit signifikant besseren Leistungen einher im Finden von Gemeinsamkeiten, Bilderergänzen und dem Mosaik-Test (Oliver Breitkopf 2008). Dieser Befund spricht für eine genetische Fixierung von Abstraktion (Gemeinsamkeiten finden) und Vorstellung (Bilderergänzen, Mosaiktest).


Der gegenwärtige Stand der Hominisation

Innerartlich ist Abstraktionsvermögen bis in der Gegenwart unterschiedlich ausgeprägt. Schopenhauer meinte verbittert in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“: Greisen wird die Zeit stets zu kurz und die Tage fliegen pfeilschnell vorüber. Versteht sich, daß ich von Menschen rede, nicht von alt gewordenem Vieh. Nietzsche bezeichnete die Unkreativen, die ihren Halt in der Gemeinsamkeit suchen, und die geführt werden wollen von Vater Staat und Mutter Gesellschaft, als Herdentiere.[10] Allerdings sah er in deren Naturell keinen Atavismus, keine frühe Stufe der Hominisation, sondern eine Gesamtentartung des Menschen zu sozialistischen Tölpeln, einen degenerativen Prozess.

Aus biologischer und anthropologischer Sicht ist der evolutinonäre Schritt vom Homo sapiens zum Homo sapiens intellectus noch nicht abgeschlossen. Soziale Instinkte des Zoon politikon Mensch wirken hier einer natürlichen Auslese entgegen.[11]

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Thomas Mann vermeidet aus künstlerischem Kalkül die Begriffe Geist und abstraktes Denken, wie er auch Lübeck in «Buddenbrooks» (1901) nicht genannt hat und Savanorola nicht in «Fiorenza» (1906). Doch in seinem Vorwort zu der literarischen Exil-Zeitschrift «Maß und Wert» (1937) hatte Thomas Mann angemerkt: Denn der Mensch ist ein Geheimnis. In ihm transzendiert die Natur und mündet ins Geistige.[12] Diese Sentenz entschlüsselt die dritte Urzeugung in Professor Kuckucks Kosmogonie. Als eigenes Weltbild hatte Thomas Mann diese Philosophie 1952 für eine Rundfunksendung niedergeschrieben, die am 24. Oktober in englischer Sprache ausgestrahlt wurde. In Deutsch erschien der Text im gleichen Jahr unter dem Titel «Lob der Vergänglichkeit»

  1. Durch Kunst
  2. Kramer, K., B. Comrie u. M. Meier-Brügge. Hamburg: GEO kompakt Nr. 4, S. 153.
  3. Klein, Richard: He has advanced a controversial theory for what caused the sudden increase in innovation and talent in Africans approximately 50,000 years ago: a genetic mutation, he postulates, altered the organization of their brains, giving them greater adaptability and, perhaps, the capacity to think symbolicall. Klein, R. G. & Edgar, B. (2002) The Dawn of Human Culture (Wiley, New York). Klein, R. G. (2003) Science 299 , 1525–1527.
  4. Scott Atran: The trouble with memes. Inference versus imitation in cultural creation. In: Human Nature. Band 12, Nr. 4, 2001, S. 351 ff
  5. Friederici, A. D.: Warum der Affe keine Sprache lernt. Vortrag am 14.11.2012 in Leipzig, Ringvorlesung Evolution.
  6. [1]
  7. [2]
  8. [3]
  9. Eine Variation im Genom.
  10. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück. Zur Naturgeschichte der Moral, Abschnitt 203
  11. Nicht verwechselt werden dürfen damit Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft. Sie sind Ausdruck der politischen Abhängigkeit (Wählerstimmen) und Unfreiheit gewählter Regierungen.
  12. In religiöser Sicht war die Natur für Thomas Mann Teufelsbereich und die Welt des Geistes göttlich. Im Eisenbahnkapitel des Hochstaplerromans steht die Menschwerdung für Geist.


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