Das »Zwillingsparadoxon« - einmal genau betrachtet
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Bei der mathematischen Behandlung des so genannten Zwillingsparadoxons – das in Wirklichkeit keines ist – werden im Allgemeinen die Beschleunigungs- und Bremsphasen zu Beginn, bei der Umkehr und am Ende der Reise vernachlässigt. Dabei sind – wie sich zeigen wird – gerade sie die Ursachen des gesamten Phänomens. Und nur dadurch, dass sie berücksichtigt und genauer untersucht werden, lässt sich der Vorgang befriedigend erklären und das Paradoxon auflösen. Betrachten wir die Sache also einmal etwas genauer. Dabei genügt es, nur die Hinreise zu untersuchen, da die Rückreise als ihr Spiegelbild betrachtet werden kann. Bekanntlich entsteht das (scheinbare) Paradoxon erst dann, wenn man den Vorgang auch aus der Sicht des reisenden Zwillings betrachtet, der angeblich aus Symmetriegründen mit Recht behaupten könne, der daheim gebliebene Bruder wäre weniger gealtert. Daher muss – wenn man die Kritiker Einsteins überzeugen und seinen Anhängern stichhaltige Argumente liefern will – das Geschehen aus beiden Perspektiven betrachtet werden.
Allgemeine Überlegungen
BearbeitenGegeben seien zwei zunächst relativ zueinander ruhende Bezugssysteme S und S' , welche durch eine X-Achse bzw. eine X' -Achse repräsentiert werden. Die beiden Achsen liegen aufeinander, ihre Ursprünge (Nullpunkte) O und O' koinzidieren und die Uhren in beiden Systemen sind synchronisiert. Dann wird S’ beschleunigt usw. Fortan sind die beiden Brüder unterschiedlicher Auffassung darüber, ob zwei Ereignisse, die an verschiedenen Orten auftreten, gleichzeitig sind oder nicht. (Diese unterschiedliche Auffassung der Gleichzeitigkeit ist die Ursache der relativistischen Effekte „Zeitdilatation“ und „Lorentz-Kontraktion“, die beide nur aus der Sicht des Beobachters im jeweils anderen System existieren.)
Ein Vergleich der Reisezeiten ist erst wieder möglich, wenn entweder die Ursprünge O und O’ koinzidieren, oder die beiden Beobachter sich über die Gleichzeitigkeit einig sind, was gleiche Geschwindigkeit voraussetzt (sonst nichts). Im ersten Fall (Koinzidenz von O und O’ ) ist es gleichgültig, ob die Beobachter noch relativ zu einander bewegt sind oder nicht, weil die Uhren in O und O’ sich dann am selben Ort befinden. Jeder Beobachter (B und B’ ) kann seine eigene Uhr mit der im anderen System vergleichen, und es kann keine Meinungsverschiedenheit über das Ergebnis geben. System S’ braucht in diesem Fall nicht abgebremst zu werden, es genügt ein »Vorbeiflug« von O’ an O.
Im zweiten Fall (keine Relativgeschwindigkeit und daher Einigkeit bezüglich der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse an unterschiedlichen Orten) kann der Vergleich der Uhr in O’ mit jeder beliebigen Uhr in S vorgenommen werden, da alle Uhren in S auch für den Beobachter in S’ wieder synchron gehen (wenn sie auch nicht dasselbe anzeigen wie seine eigene Uhr). Dieser zweite Fall tritt im Umkehrpunkt ein. Bereits dort können B’ und der ihm gegenüber stehende Beobachter B1 in S (der natürlich nicht identisch ist mit B, der sich ja in O befindet) ihre Uhren vergleichen. (Das ist der Grund dafür, dass es genügt, lediglich den Hinflug von S’ zu betrachten. Von der Zeit t = 0 bis zur Zeit t = t1 erfahre das System S' eine konstante Beschleunigung vom Größenwert a (Phase 1). Von t1 bis t2 (Phase 2) sei die Geschwindigkeit von S' konstant gleich v1, von t2 an erfahre S' eine negative Beschleunigung vom Größenwert -a (Phase 3), bis es zur Zeit t3 relativ zu S wieder in Ruhe ist. (Selbstverständlich wird mit zunehmender Geschwindigkeit die zur konstanten Beschleunigung benötigte Kraft immer größer. Über die damit verbundenen technischen Probleme brauchen wir uns hier keine Sorgen zu machen.)
Der Vorgang aus der Sicht eines Beobachters in S
BearbeitenDas Minkowski-Diagramm der Hinreise sieht wie folgt aus, wobei die rote Kurve die »Weltlinie« des Punktes O' ist. Die momentane W' -Achse des Systems S' ist die Tangente im jeweils betrachteten Kurvenpunkt der Weltlinie.
Betrachten wir ein kleines Stück der Weltlinie des Punktes O' . Für die Länge der Sekante zwischen zwei Kurvenpunkten gilt wegen der pseudoeuklidischen Metrik
und für das Differential der Bogenlänge
woraus mit w' = c t' und w = c t folgt
und schließlich
Für die Dauer der drei Phasen im System S’ergibt sich daraus:
Phase 1:
Mit v(t) = a t und v1 = a t1 erhält man daraus
Phase 2:
Phase 3:
Wegen der Symmetrie der Phasen 1 und 3 gilt:
Daraus folgt
Dagegen ist
und daher die Zeitdilatation
Diskussion:
1. Für v1 << c ist
und daher ΔT verschwindend klein.
2. Für v1 gegen c wird
Wenn außerdem t2 >> t1 ist, wird ΔT ≈ t2.
3. Auch für mittlere Werte von v1 können die Beschleunigungsphasen 1 und 3 gegenüber der Phase 2 vernachlässigt werden, wenn t2 >> t1 ist. Dies ist genau das, was bei der üblichen Behandlung des so genannten Zwillingsparadoxons geschieht, wenn die tatsächliche Weltlinie des reisenden Bruders durch eine geknickte Gerade ersetzt wird. Dieses Vorgehen wird also durch das Ergebnis der exakten Rechnung als brauchbare Näherung gerechtfertigt.
Übrigens stellen die Phasen 1 und 2 zusammen eine vollständigere (und daher auch exaktere) Beschreibung des (hier als bekannt vorausgesetzten) Phänomens der »Langlebigkeit« der Myonen der sekundären Ultrastrahlung dar als die allgemein übliche. Während ihrer Entstehung werden die Myonen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Für einen Beobachter im unbeschleunigten System »Erde« gehen dann die Uhren im Eigensystem der Myonen erheblich langsamer als die Uhren in seinem System.
Beispiel:
Für die Abb. 3 wurde angenommen a = arctan (v/c) = 40°, woraus folgt v/c ≈ 0,84. (Hinsichtlich a = arctan (v/c) siehe http://home.vrweb.de/~si.pe/Spezielle%20Relativitaetstheorie%20-%202.%20Teil.pdf Seite 14)
Daraus ergeben sich dann die Dauer der einzelnen Phasen im System S’ :
Phase 1: t’ 1 = 0,86 t1,
Phase 2: t’ 2 – t’ 1 = 0,54 (t2 – t1),
Phase 3: t’ 3 – t’ 2 = t’ 1 = 0,86 t1 = 0,86 (t3 – t2).
Zeitdifferenz ΔT = t3 – t' 3 = 0,46 t2 – 0,19 t1 = 0,46 (t2 - t 1) + 0,27 t1.
Ergebnis:
Im Umkehrpunkt der Reise zeigt der Uhrenvergleich im Punkt C, dass im System S’ weniger Zeit vergangen ist als im System S, worüber zwischen den Beobachtern in S und S’ Einvernehmen besteht. Die X- und die X’ -Achse (siehe Abbildung 3) fallen wieder zusammen, aber die Uhren in S und S’ zeigen unterschiedliche Zeiten an. Es handelt sich dabei also um einen gänzlich anderen Effekt als bei der »relativistischen Zeitdilatation«, die ja symmetrisch in dem Sinne ist, dass jeder Beobachter die Uhren im anderen System langsamer gehen sieht. Für den Beobachter in S gibt es für diese Erscheinung anscheinend nur eine vernünftige Erklärung: Der Gang der Uhren im System S’ werden in der Phase 1 verlangsamt. In der Phase 2 gehen diese Uhren dann mit verminderter, aber konstanter Geschwindigkeit, und in der Phase 3 werden die Uhren wieder auf die ursprüngliche Ganggeschwindigkeit gebracht. Als Ursache dafür käme allein die Beschleunigung bzw. die Verzögerung des Systems S’ in Betracht.
Der Vorgang aus der Sicht eines Beobachters in S’
BearbeitenWir berechnen jetzt die Dauer, welche die Phasen 1, 2 und 3 aus der Sicht eines Beobachters im System S’ im System S haben.
In Abbildung 3 ist die Lage der X’-Achse des Systems S’ zu vier verschiedenen Zeitpunkten eingezeichnet. Ihre Schnittpunkte mit der W-Achse geben die Orte des Punktes O zu den Zeiten t’ i (i = 0, 1, 2, 3) an, beurteilt vom System S’ aus. (In S hat O’ dieselbe w-Koordinate wie O, die beiden Punkte sind also in S »gleichzeitig«. In S’ dagegen ist der Punkt O*1 mit O’ 1 gleichzeitig, usw.)
Abbildung 4 zeigt einen Ausschnitt aus Abbildung 3:
Es ist
und daher
Mit den oben angenommenen Werten ist
Aus der Sicht des Beobachters in S’ ist also die Phase 1 in S kürzer als in S’ . Für ihn scheinen also die Uhren in S langsamer zu gehen als die eigenen. Das beruht, wie man aus Abbildung 3 erkennen kann, auf der Drehung der X’ -Achse. Allerdings gehen für ihn die Uhren in S in einem anderen Verhältnis langsamer als es die Uhren in S'
für einen Beobachter in S tun. Das zeigt am einfachsten ein Zahlenbeispiel mit den oben angenommenen Werten:
Es ist für einen Beobachter in S: t' 1 = 0,86 t1, Dagegen ist für einen Beobachter in S' : t*1 = 0,65 t' 1, woraus mit t1 = t' 1 /0,86 folgt: t*1 = 0,76 t' 1.
Die Uhren in S sind also für einen Beobachter in S' stärker verlangsamt als die Uhren in S' für einen Beobachter in S. Die Uhren der beiden Systeme verhalten sich also nicht mehr symmetrisch im Sinne der Speziellen Relativitätstheorie. Fortan sind die beiden Systeme nicht mehr gleichberechtigt; die Lorentz-Transformationen gelten nicht mehr.
Analog ergibt sich aus Abbildung 5:
Auch in Phase 2, in der sich S’ mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, tritt der bekannte symmetrische Effekt der relativistischen Zeitdilatation auf. Wieder gehen die Uhren in S für einen Beobachter in S’ langsamer als die eigenen Uhren.
In Phase 3 vergeht in S’ die Zeit t’ 3 – t’ 2 = t’ 1, während in S – immer aus der Sicht eines Beobachters in S’ – die sehr viel größere Zeitspanne t3 – t*2 vergeht. Diese beträgt
Dafür kann man auch schreiben
wodurch der Einfluss der Länge (t2 – t1) der Phase 2 deutlich wird. – Dagegen ist
Beispiel:
Setzt man wieder v/c = 0,84, erhält man
Der erste Wert ist beträchtlich größer als der zweite, sodass das Nachgehen der Uhren in der 1. und 2. Phase (aus der Sicht des Beobachters in S’ ) in der 3. Phase erheblich überkompensiert wird.
Nun wird auch der wahre Grund dafür deutlich, dass t’ 3 < t3 ist: Das Zurückdrehen der X’ -Achse in Phase 3 erfolgt in größerer Entfernung von der W-Achse als das Drehen während Phase 1. Die X’ -Achse überstreicht dabei in Phase 3 eine der Entfernung von der W-Achse proportionale Strecke dieser Achse. Anders gesagt: Die Ursache für das Nachgehen der Uhren in S’ nach der Rückkehr des Zwillings beruht darauf, dass die Bremsphase 3 (und die darauf folgende Beschleunigungsphase beim Rückflug) sich in größerer Entfernung vom Ursprung des unbeschleunigten Systems abspielen als die erste Beschleunigung (Phase 1) und die Bremsphase vor Ende der Reise.
Konsequenzen für die Grundlegung der Speziellen Relativitätstheorie
BearbeitenIn seiner grundlegenden Arbeit zur Speziellen Relativitätstheorie »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« führt Einstein zwei zunächst relativ zueinander ruhende Bezugssystem ein und beschreibt detailliert, wie die Uhren in den Systemen synchronisiert werden. In § 3, Abs. 2 der genannten Abhandlung (S.897) schreibt er dann: „Es werde nun dem Anfangspunkte des einen der beiden Systeme (k) eine (konstante) Geschwindigkeit v in Richtung der wachsenden x des anderen, ruhenden Systems (K) erteilt ...“ Für das Weitere setzt Einstein als selbstverständlich voraus, dass trotz der Beschleunigung, die das System k erfahren hat, die Uhren in den Ursprüngen O und O’ der beiden Systeme noch immer synchron gehen. Wie oben in den Kapiteln 2 und 3 gezeigt wurde, ist dies jedoch nicht der Fall. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herleitung der Transformationsgleichungen (Lorentz-Transformationen) nicht mehr erfüllt. Es wäre allerdings voreilig, daraus zu schließen, die gesamte Theorie wäre falsch. Man muss nur anders als von Einstein beschrieben vorgehen, um – ganz allgemein gesagt – die Gleichberechtigung der beiden Systeme zu bewahren. Dazu wird folgendes Vorgehen vorgeschlagen: Die beiden Systeme S’ und S’’ werden bezüglich eines dritten Systems S in entgegengesetzten Richtungen auf die Geschwindigkeit u bzw. – u beschleunigt. Am Ende der Beschleunigung wird der Schnittpunkt der X’-Achse mit der X’’-Achse als neuer Ursprung O’ bzw. O’’ definiert und es werden neue W’’ / W’ –Achsen eingeführt. Wegen der Symmetrie gehen die Uhren in diesen Punkten synchron. Ebenso gehen die Uhren in S’ und S’’ jeweils untereinander synchron.
Damit sind die für die Herleitung der Transformationsgleichungen benötigten Voraussetzungen erfüllt. Allerdings ist, wie sich erst später zeigen lässt (Additionstheorem für Geschwindigkeiten), die Relativgeschwindigkeit v der beiden Systeme nicht 2u, sondern lediglich
Im Minkowski-Diagramm kann das System S’’ anschließend wieder als rechtwinklig dargestellt (und als S bezeichnet) werden, während S’ als schiefwinklig abgebildet wird.