Chemie für Quereinsteiger/3.6.1 Normung der Bindefähigkeit von Ionen

3.6.1 Normung der Bindefähigkeit von Ionen Bearbeiten

Die Ionen, so wie sie z. B. im Periodensystem angeführt sind, lassen sich in einer ungeheuren Vielfalt miteinander koppeln. Diese Vielfalt experimenteller Beobachtungen stellt die Frage nach einem Ordnungsprinzip, nach dem sich die einzelnen Ionen miteinander verknüpfen lassen.

Diese Ordnung zu finden ist weitaus schwieriger als bei den gerichteten Bindefähigkeiten. Bei ungerichteten Bindefähigkeiten kann die Anzahl der gekoppelten Teilchen prinzipiell nicht beschränkt sein, weil es nur auf den verfügbaren Platz, auf die Geometrie ankommt.

Ionen besitzen die Eigenschaft, sich gegenseitig anzuziehen oder abzustoßen. Kationen untereinander und Anionen untereinander stoßen sich gegenseitig ab. Das macht keine andere Teilchensorte. Atome mit gerichteten Bindefähigkeiten tun dies nicht, Atome mit ungerichteten Bindefähigkeiten ebenfalls nicht: Bei all diesen Teilchen kommen nur Anziehungskräfte zum Tragen.

Wenn Ionen verknüpft werden, dann muß das anziehende und abstoßende Prinzip gegenseitig ausgeglichen sein. Als beschreibende Größe dient uns hier die Eigenschaft der Ionenladung. Zunächst machen wir dazu ein Gedankenexperiment, das die Kraftwirkung von Ionen in Analogie zur Massenanziehung aufzeigt (vgl. (1) und (2) in Abb. 3.15).

Nehmen wir als Normmasse die Erde und hängen zwei unterschiedlich schwere Kugeln an eine Federwaage. Zeigt die Federwaage bei der zweiten Kugel die doppelte Kraftwirkung an, so kann die Masse dieser Kugel beispielsweise 2 kg und die der ersten Kugel mit 1 kg bezeichnet werden. Nehmen wir einen Gegenstand mit konstantem, negativ geladenem elektrischen Feld (etwa eine geriebene Folie, vgl. (2) in Abb. 3.15) und messen die Kraft, mit der ein positiv geladenes Lithium-Ion angezogen wird. Das gleiche wiederholen wir mit einer positiven elektrischen Fernwirkungsquelle und messen die Kraftwirkung auf ein negatives Fluor-Ion. Die Messung ergibt, daß die Kraftwirkung auf beide Ionen, auf das Lithium-Ion und auf das Fluor-Ion, genau gleich groß ist. Jetzt werden alle anderen Ionen ebenfalls im elektrischen Fernwirkungsfeld vermessen und ihre Kraftwirkungen bestimmt. Wir setzen das positive Lithium-Ion und das negative Fluor-Ion als Norm und geben an, um wieviel mal stärker das "Test-Ion" im elektrischen Feld angezogen wird als ein Lithium- oder Fluor-Ion. Die Abbildung (2) symbolisiert etwa ein Ca2+-Ion, das eine doppelt so starke Kraftwirkung zeigt.

 
Abb 3.15: Ionenladungen als Maß für Kraftwirkungen

Von den positiven Ionen besitzen Natrium-, Kalium- und Silber-Ionen die gleiche Kraftwirkung wie ein Lithium-Ion. Magnesium-, Calcium- und Zink-Ionen besitzen die zweifache, Aluminium-Ionen, manche Eisen- oder Chrom-Ionen die dreifache, manche Blei-Ionen sogar die vierfache Kraftwirkung eines Lithium-Ions.

Diese Kraftwirkungen können auch im Experiment nachgewiesen werden. Man hat daraufhin die Größe der elektrischen Ladung gekennzeichnet: 1+, 2+, 3+ oder 4+. Einige Beispiele positiv geladener Ionen und entsprechender Ionensymbole zeigt (3) in Abbildung 3.15.

Die Normung der negativen Ionen erfolgt genauso in einem positiven elektrischen Feld. Es werden die entsprechenden Kraftwirkungen der negativen Ionen bestimmt und mit der des Fluor-Ions verglichen, dem die Normladung 1- zugeordnet ist. Die Ladungen der Ionen werden als Vielfaches der Ladung des Fluor-Ions angegeben. Abbildung 3.15 zeigt ebenfalls einige Beispiele.

Mit den Ladungszahlen der Ionen beschreiben wir die elektrischen Bindekräfte um das Ion herum. Koppeln wir mehrere Ionen zusammen, dann nehmen die Ionen mit ihren Fernwirkungskräften ihre Plätze so ein, daß bei gleicher Anzahl und gleichmäßiger Verteilung von positiven und negativen Ladungen Anziehung und Abstoßung ausgewogen und stabil sind. Man sagt auch, der Teilchenverband ist elektrisch ausgeglichen oder elektrisch neutral.

Abbildung 3.16 zeigt zweidimensionale Modellvorstellungen von Ionenverbänden, die "elektrisch ausgeglichen" genannt werden. Die Bilder dieser Abbildung sind Ausschnitte aus beliebig großen Flächen und geben das Bauprinzip an, wie die Ionen im Verband zu verknüpfen sind.

In Bild (1) ist jedes positive Ion mit der Ladung 1+ von vier negativen Ionen mit der Ladung 1- umgeben und gleichzeitig jedes Ion mit der Ladung 1- von vier anderen Ionen: Jedes Ion mit der Ladung 1- wird somit von der Ladung 4+ eingehüllt und jedes Ion mit der Ladung 1+ von der Ladung 4-.

In Darstellung (2) ist jedes "2+Ion" von vier "1-Ionen" umgeben, und gleichzeitig jedes "1-Ion" von zwei "2+Ionen". Somit ist ebenfalls jedes "1-Ion"von der Ladung 4+ eingehüllt, jedes "2+Ion"durch die Ladung 4-.

 
Abb. 3.16: Modellvorstellungen für elektrisch ausgeglichene Ionenverbände

Die Normung der Ionenladung anhand der Li+-Ionen oder F--Ionen hat den Vorteil, daß wir die Ionen ihrer gleichen elektrischen Kraftwirkung nach ordnen und verwenden können. Außerdem ergibt die Forderung der elektrischen Neutralität beim Zusammenbau von Ionen die Voraussagen des Anzahlenverhältnisses, in dem wir die Anionen und Kationen bereitstellen müssen. In Fall (1) muß das Zahlenverhältnis der Ionen A+ : B- = 1 : 1 sein, im Fall (2) A2+ : B- = 1 : 2. Über die Anzahl der entgegengesetzt geladenen Ionen, die mit einem einzelnen Ion verknüpft werden können, ist jedoch keine allgemeine Aussage möglich.