Astronomische Berechnungen für Amateure/ Himmelsmechanik/ Von geozentrisch zu heliozentrisch

Im zweiten Jahrhundert nach Christus formulierte der griechische Gelehrte Claudius Ptolemaeus (um 100 n.Chr. – um 175 n.Chr.) das geozentrische Weltbild: die Erde steht im Zentrum des Weltalls. Sonne, Mond, die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn sowie die Fixsterne umkreisen die Erde. Da diese Körper zum Himmel und damit zum göttlichen Bereich gehören, ist für die Gelehrten nur die göttliche, weil perfekte Form einer Bewegung möglich, nämlich die Kreisbewegung. Aus dem gleichen Grund darf es in diesem Bereich auch keine Veränderungen geben. In der Schöpfung wurden alle Himmelskörper geschaffen. Sie werden ewig und unveränderlich bleiben, ihre Bahnen sind keinerlei Veränderungen unterworfen. Da nun aber die Bewegung der Planeten am Erdhimmel offensichtlich nicht gleichförmig erfolgt, musste eine kompliziert zusammengesetzte Bewegung postuliert werden. Danach umkreist der Planet nicht direkt die Erde. Der Mittelpunkt einer weiteren Kreisbahn – des sog. Epizykels –, auf dem sich der Planet bewegt, kreist auf einer exzentrischen Kreisbahn um die Erde. Mit dieser Epizykeltheorie gelang es den Astronomen, die komplizierten Bewegungen der Planetenschleifen zu erklären. Das gesamte Wissen über Mathematik und Astronomie seiner Zeit legte Ptolemaeus in einem 13-bändigen Werk nieder. Dieses Werk hiess ursprünglich »Hè mathematikè syntaxis« (Mathematische Zusammenstellung), später wohl wegen seines Umfangs »Hè megistè syntaxis« (Grösste bzw. sehr grosse Zusammenstellung). Wie viele andere Werke der griechischen Antike wurde sie in Europa zuerst in der arabischen Übersetzung bekannt[1] So wird das Werk denn heute meist unter seinem arabisierten Titel »Almagest« zitiert[2]. Im mathematischen Teil wurden Anleitungen zur Berechnung von Planetenpositionen vorgestellt. Ergänzend dazu publizierte Ptolemaeus die sog. »Handlichen Tafeln« (»Procheiroi kanones«), die die Berechnungen von Planetenpositionen vereinfachten. Bis ins 17. Jahrhundert galt Ptolemaeus' Werk als Standard der Wissenschaft[3].


An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert griff Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) eine bereits vom griechischen Gelehrten Aristarchos von Samos (um 310 v.Chr. – um 230 v.Chr.) formulierte Idee wieder auf, nämlich dass die Sonne im Zentrum des Weltalls steht und alle Himmelskörper, die Erde eingeschlossen, um sie kreisen. Dieses heliozentrische Weltbild hatte den Vorteil, dass es wesentlich einfachere Rechnungen ermöglichte, aber sowohl der „gesunde Menschenverstand“ wie auch die Bibel und damit die mächtige Kirche widersprachen dieser Theorie. Sein Werk »De revolutionibus Orbium Coelestium« (etwa »Über die Umläufe der Himmelssphären«) veröffentlichte er im Todesjahr. Seine Berechnungen basierten auf neueren Ausgangsdaten, darum waren sie genauer als diejenigen von Ptolemaeus, aber nicht aufgrund der Theorie: Kopernikus blieb insofern dem aristotelisch-kirchlichen Denken verhaftet, als er Kreisbewegungen annahm. Ein Herausgeber hatte zudem vorsorglicherweise im Vorwort eingefügt, dass es nicht um die Darstellung der Realität gehe, sondern um ein vereinfachtes Rechenverfahren.


Tycho Brahe (Mitte) beim Beobachten an seinem grossen Mauerquadranten

Der dänische Adlige und Astronom Tycho Brahe (1546 – 1601) war ein aussergewöhnlicher Mensch – ein Typ Gelehrter, der erst in der kommenden Zeit der aufblühenden Naturwissenschaften zur Regel wurde: nicht theoretische Überlegungen, sondern sorgfältige Beobachtungen und unvoreingenommene Interpretation der Resultate bestimmten sein Handeln. Zwei Ereignisse zeigten ihm, dass mit der alten Theorie nicht alles seine Richtigkeit haben konnte: Im November des Jahres 1572 entdeckte er im Sternbild Kassiopeia einen Stern, der dort nicht hingehörte. Obschon er so hell war wie die Venus, konnte es kein Planet sein. Nach rund einem Jahr verschwand er wieder. Etwas Ungeheures war geschehen: in der Welt der Fixsterne, die als unveränderlich seit der Schöpfung angesehen worden war, war ein neuer Stern entstanden und wieder verschwunden[4]. Die einzigen vergänglichen Objekte am Himmel, die Kometen, waren nach damaliger Lehrmeinung Bestandteil des Raums zwischen Erde und Mond, einige hielten sie gar für atmosphärische Erscheinungen. Doch Tycho Brahe konnte beim grossen Kometen von 1577 keine Parallaxe beobachten, was nur die Feststellung zuliess, dass zumindest dieser Komet sich „weit draussen“ im Weltall aufhielt. Wenn schon diese beiden Lehrsätze nicht stimmten, war dann vielleicht das ganze ptolemäische Weltbild falsch? Tycho Brahe baute dank der Unterstützung des dänischen Königs Friedrich II. auf einer Öresundinsel zwei Sternwarten, Uranienborg und Stjerneborg, wo ihm die genausten Beobachtungsinstrumente der damaligen Zeit zur Verfügung standen[5]. Rund 21 Jahre lang sammelte er mit Studenten Beobachtungen über die Positionen von Sternen und Planeten, namentlich des Mars. Das Ziel bestand darin, auf der Basis der genauesten zur Verfügung stehenden Beobachtungsdaten eine Entscheidung über das „richtige“ Weltbild zu fällen. Er erreichte bei seinen Beobachtungen eine für damalige Verhältnisse unvorstellbare Genauigkeit von 2 Bogenminuten[6].


Portraitzeichnung Keplers

Nachdem sein Förderer Friedrich II. gestorben war, siedelte er nach Prag über, um dem deutschen Kaiser Rudolf II. als Hofmathematiker und Astrologe zu dienen. Gleichzeitig plante er, seine Beobachtungen auszuwerten und die Frage der Weltsysteme zu klären. Im Auftrag des Kaisers sollte er auch neue Tafeln berechnen, um bequem die Planetenpositionen vorhersagen zu können. Deren Vorvorgänger, die Alfonsinischen Tafeln aus dem 13. Jahrhundert, basierten noch auf der ptolemäischen Idee. Die preussischen oder prutenischen Tafeln aus dem Jahr 1551[7] fussten auf der kopernikanischen Theorie. Sie waren zwar genauer als die alfonsinischen, aber hauptsächlich darum, weil die Ausgangsdaten aktueller waren. Noch immer zeigten die Tabellen aber erhebliche Abweichungen zur Realität – bis zu 5° konnte die Differenz zwischen berechneter und beobachteter Planetenposition betragen. Tycho Brahe hoffte, auf der Basis seiner genauen Beobachtung bessere Tabellen berechnen zu können. Dazu holte er auch Johannes Kepler (1571 – 1630) nach Prag. Bevor sie sich jedoch an die Arbeit machen konnten, starb Tycho Brahe. Sein umfangreiches Beobachtungsmaterial hinterliess er Kepler, der auch sein Nachfolger als kaiserlicher Hofmathematiker und Astrologe wurde. Ihm gelang es, die wahre Gestalt der Planetenbahnen zu bestimmen, nachdem die Annahme einer Kreisbahn immer einen Restfehler geliefert hatte, der grösser war als die Ungenauigkeit in Tychos Beobachtungsdaten. Schliesslich gelang es ihm, die Beobachtungsdaten richtig zu deuten, was ihn zu den ersten beiden nach ihm benannten Gesetzen führte. Diese publizierte er ihm Jahre 1609 im Buch »Astronomia nova« (Neue Astronomie). Dabei konzentrierte er sich darauf, die Marsbahn zu verstehen, was dann den Schlüssel für alle Planetenbahnen lieferte. Sein drittes Gesetz fand er erst zehn Jahre später. Er veröffentlichte es im 1619 erschienenen Buch »Harmonices Mundi libri V« (wörtlich »Fünf Bücher zur Harmonik der Welt«, verkürzt vielfach als »Weltharmonik« zitiert). Die darauf basierenden Rudolfinischen Tafeln zur erleichterten Berechnung von Planetenpositionen erschienen erst 1627. Sie erreichten eine bis dahin ungekannte Genauigkeit und dienten fast hundert Jahre später Isaac Newton (1642 – 1727)[8] bei der Herleitung des Gravitationsgesetzes.

Portrait Galileis

Trotz dieser Erfolge stiess das kopernikanische Weltbild zunächst auf wenig Gegenliebe. Vor allem die Kirchen – katholische und protestantische – verurteilte die neue Lehre im besten Fall als Geistesverwirrung, im schlechtesten Fall als Ketzerei und Gotteslästerung. Galileo Galilei (1564 – 1642) wurde wegen der Verbreitung der kopernikanischen Lehre 1633 gar von der Inquisition zum Widerruf gezwungen und zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Dieses Urteil wurde erst 1992 von Papst Johannes Paul II. aufgehoben und Galilei formell rehabilitiert. Bis zur Entdeckung der Aberration von Fixsternen durch James Bradley im 18. Jahrhundert gab es allerdings kein Phänomen, das nicht auch durch eine andere als die kopernikanisch-keplersche Theorie erklärt werden konnte.

Warum dieses lange Kapitel über ein historisches Thema in einem Buch über astronomische Berechnungen? Weil es uns gerade für Berechnungen einige wichtige Einsichten vermittelt:

  • Rechnungen und theoretische Herleitungen sind wichtig – ihr Prüfstein ist aber die Übereinstimmung von Rechnung und Beobachtung. Der erste, der dies mit grosser Konsequenz umsetzte, war Tycho Brahe.
  • Mit dem Fortschreiten der Messgenauigkeit müssen sich auch die mathematischen Modelle entwickeln. Dadurch werden die früheren Berechnungen in der Regel nicht einfach falsch, aber ihr Anwendungsbereich wird stark eingeschränkt. In diesem Buch machen wir davon immer wieder Gebrauch, wenn wir etwa formulieren: „… für die Belange des Amateurastronomen genügen …“.
  • Trotz der so genannten kopernikanischen Revolution ist vor allem die Alltagssprache, teilweise aber auch die wissenschaftliche Sprache noch stark vom geozentrischen Weltbild durchsetzt: wir sprechen davon, dass „Himmelskörper im Osten auf- und im Westen untergehen“, dass sie „im Meridian kulminieren“. Oder dass die Planeten „Schleifen vor den Hintergrundsternen beschreiben“. Angesichts solcher Sprachrelikte, die mit entsprechenden Bildern verknüpft und tief in uns verwurzelt sind, sollten wir nicht allzu überheblich auf Kopernikus', Keplers und Galileis Zeitgenossen herabschauen, die in den neuen Lehren eine Beleidigung des gesunden Menschenverstandes sahen.



Übungen

  • Setzen Sie sich im Internet über die Funktionsweise von Jakobsstab, Quadrant, Sextant, Astrolabium und Armillarsphäre in Kenntnis. Schauen Sie, wie man mit Hilfe eines Nonius die Ablesegenauigkeit verbessern kann.
  • Tycho Brahe erreichte eine Genauigkeit von 2', so steht im voranstehenden Text. Um diese Genauigkeit noch besser zu würdigen führen Sie folgende Rechnung aus: nehmen Sie an, die Skalenstriche auf einem Quadranten hätten einen Abstand von 1 mm. Dies soll Wertabständen von 1° / 20' / 10' / 2' entsprechen. Welchen Radius müsste der Quadrant in diesen Fällen jeweils aufweisen?



Nachweise:

  1. Eine griechische Fassung wurde erst im 12. Jahrhundert bekannt; fast gleichzeitig wurden die arabische und die griechische Version dann ins Lateinische übersetzt, also in die in Europa gebräuchliche Sprache der Gelehrten.
  2. Durch Voranstellen des arabischen Artikels Al vor das Adjektiv Megiste wurde Al Megiste, meist als al-Majisti transkribiert, was schliesslich zu Almagest wurde.
  3. Eine Würdigung von Ptolemaeus' Werk findet sich in einer Webpublikation der Universität Bern.
  4. Heute wissen wir, dass die sog. Supernova 1572 das Endstadium eines Sterns markierte. Bereits 1604 erschien im Sternbild Schlangenträger (Ophiuchus) eine weitere Supernova, die ausführlich von Kepler beschrieben wurde.
  5. Das Fernrohr wurde vom deutsch-niederländischen Brillenmacher Hans Lipper[s]hey (um 1570 – 1619) erst 1608, also nach Tycho's Tod, erfunden.
  6. Ein weiterer Hinweis auf die Genauigkeit seiner Beobachtungen: allein mit Hilfe von Visierung gelang es ihm, die Länge des Jahres zu 365d 5h 48m 45s zu bestimmen – wir geben heute dafür bezogen auf die Standardepoche J2000 365d 5h 48m 45.261s an!
  7. Diese Tafeln dienten den Wissenschaftern als Grundlage für die gregorianische Kalenderreform von 1582.
  8. In England galt bei Newtons Geburt noch der julianische Kalender, darum war sein Geburtsdatum der 25. Dezember 1642 [alten Stils], was im gregorianischen Kalender dem 4. Januar 1643 entsprach.