Analysis II: Implizite Funktionen

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Einleitung

Es gibt Funktionen, die nicht explizit aufgeschrieben werden können. Ein berühmtes Beispiel ist der Einheitskreis, beschrieben durch die Menge $\!\ f(x,y)=0$ mit $\!\ f(x,y)=x^{2}+y^{2}-1$. Die Gleichung lässt sich zwar nach $\!\ y$ auflösen, aber nicht eindeutig, womit es keine Funktion mehr ist. Wenn die Auflösung nicht gelingt, stellt man sich aber trotzdem die Frage:

Kann ich $\!\ f$ mit mehreren Funktionen eindeutig beschreiben?

Mathematischer formuliert:

Kann ich $\!\ f$ lokal eindeutig nach $\!\ y$ auflösen?

Diese Frage ist deshalb so wichtig, weil viele Kurven in der Mathematik nicht explizit, sondern implizit definiert sind und man trotzdem wichtige Aussagen über sie treffen will. Freunde des Einheitskreises werden sich freuen: Der Einheitskreis ist lokal eindeutig nach $\!\ y$ darstellbar, aber eben nicht mit einer Funktion, sondern mit mehreren.
Die Frage wird von einem sehr wichtigen Satz beantwortet:

Satz über implizite Funktionen

Der allgemeine Beweis ist äußerst schwierig, weil z.B. der Zwischenwertsatz aus der eindimensionalen Analysis nicht zur Verfügung steht.
Deswegen werden wir erstmal eine einfachere Version untersuchen und beweisen. Mit der abgespeckten Version lässt sich schon beweisen, dass der Einheitskreis lokal nach $\!\ y$ auflösbar ist.

Bitte beachten

Allen Sätzen wird ein sinnhafter Name gegeben. Kleinere Sätze bekommen in der Literatur zwar keinen eigenen Namen, aber in diesem Buch schon. Diese Namen sind inoffiziell und werden nur innerhalb dieses Buches benutzt, um sinnvoll auf sie referenzieren zu können. Bei Sätzen mit mehr oder weniger bekannten Namen wird dieser gesondert formatiert.

• offizielle Namen: Beispiel
• inoffizielle Namen: Beispiel

Benötigte Definitionen

Obwohl die folgenden Definitionen dem Leser schon bekannt sein sollten, seien sie hier noch einmal erwähnt, damit der Leser sie bei Bedarf schnell nachschlagen kann. Es werden keine Sätze aufbauend auf diesen Definitionen hier beschrieben oder bewiesen.

Offene Kugel und Umgebung

Definition: Sei $\!\ (X,d)$ ein metrischer Raum, $\!\ a\in X$ ein Punkt und $\!\ r>0$. Dann heißt

$\!\ B_{r}(a):=\{x\in X:d(x,a)<r\}$

die offene Kugel mit dem Mittelpunkt a und Radius r bzgl. der Metrik d.

Definition: Sei X ein metrischer Raum. Eine Teilmenge $\!\ U\subset X$ heißt Umgebung eines Punktes $\!\ a\in X$, falls ein $\!\ \epsilon >0$ existiert, so dass

$\!\ B_{\epsilon }(x)\subset U$

Satz über implizite Funktionen (vereinfachte Version)

Wir beschränken uns erstmal auf Funktionen der Form:

$\!\ F:U_{1}\times U_{2}\rightarrow \mathbb {R}$ mit $\!\ U_{1},U_{2}\subset \mathbb {R} {\text{ ,offen}}$

Verglichen mit der allgemeinen Version ist diese Einschränkung gigantisch, aber selbst mit der einfachen Version lassen sich schon interessante Dinge anstellen. Auch ist es empfehlenswert für das Studium des allgemeinen Beweises sich mit dieser Einschränkung zu befassen.
Nun zum Satz:
<div id="Satz:Satz über implizite Funktionen (vereinfachte Version)" class="serlo-box serlo-theorem " style="border-left: #bedfed solid .3rem; margin-top: 1.5rem; margin-bottom: 2rem; padding-left: 0.8rem;">

Satz (Satz über implizite Funktionen (vereinfachte Version))

Es sei $\!\ B:=B_{r}(\mu ,\nu )\subset \mathbb {R} ^{2},f\in C^{0}(B),f(\mu ,\nu )=0$ und $\!\ f$ streng monoton wachsend oder streng monoton fallend in $\!\ y$ bzw. in $\!\ B$.
Dann existieren ein Rechteck $\!\ R=J_{x}\times J_{y}\subset B$ mit

$\!\ J_{x}:=[\mu -\alpha ,\mu +\alpha ],J_{y}:=[\nu -\beta ,\nu +\beta ]$ mit $\!\ \alpha ,\beta >0$ und

eine in $\!\ J_{x}$ stetige Funktion $\!\ g$ mit der Eigenschaft, dass die Menge der Nullstellen von $\!\ f$ in $\!\ R$ gleich $\!\ {\text{graph }}g$ ist.

Selbst die vereinfachte Version ist für Neulinge ein kalter Nackenschlag. Deshalb dröseln wir erstmal den Satz auf:
Die Kugel $\!\ B$ wird benutzt, um sich einen Ausschnitt aus der impliziten Funktion zu holen. z.B. könntest du dir einen Kreis aufmalen, dir einen beliebigen Punkt auf der Kreislinie suchen und um diesen Punkt einen kleineren Kreis zeichnen. Jetzt kommt die Aussage des Satzes hinzu: In diesen neuen kleineren Kreis kannst du ein Rechteck einzeichnen, sodass die Kreislinie in diesem Rechteck streng monoton wachsend/fallend ist. Gratulation, du hast soeben ein $\!\ g$ gefunden, bzw seine Existenz gezeigt. Wie $\!\ g$ genau ausschaut, darüber macht der Satz keine Aussage. Mit genügend Kreisen und Rechtecken könntest du also den ganzen Kreis abbilden. Mit diesem grafischen Beweis hättest du schon die lokale Eindeutigkeit gezeigt. Der mathematische Beweis ist natürlich komplizierter:

Der Beweis kann in zwei Abschnitte gegliedert werden:

1. $\!\ {\text{graph }}g$ ist die Menge der Nullstellen von $\!\ f$ in $\!\ R$.
2. $\!\ g$ ist stetig.

1.
Wir wählen $\!\ \beta =r/2$ (Somit ist sichergestellt, dass das Rechteck im Kreis $\!\ B$ ist.)

Dann ist $\!\ f(\mu ,\nu +\beta )>0$ und $\!\ f(\mu ,\nu -\beta )<0$ (Wegen der Monotonie von $\!\ f$)

Es gibt dann ein $\!\ \alpha \leq r/2$, sodass

$f(x,\nu +\beta )>0$ und $f(x,\nu -\beta )<0$ für alle $\!\ x\in J_{x}:=[\mu -\alpha ,\mu +\alpha ]$

d.h. $\!\ f$ ist in der oberen Hälfte von $\!\ R$ positiv und in der unteren Hälfte negativ.

Jetzt können wir mit dem Zwischenwertsatz unsere Behaputung zeigen:

Da $\!\ f$ in $\!\ y$ streng monoton wachsend ist, gibt es zu jedem festen $\!\ x\in J_{x}$ genau ein $\!\ g(x):=y$ mit $\!\ f(x,y)=0$ und $\!\ \nu -\beta <y<\nu +\beta$.

Daraus folgt, dass $\!\ {\text{graph }}g$ die Menge der Nullstellen ist in $\!\ R$.

2.
Jetzt untersuchen wir die Stetigkeit von $\!\ g$:

Mit $\!\ a\in J_{x}$ und $\!\ \epsilon >0$ gilt:

$f(a,g(a)+\epsilon )>0$ und

$f(a,g(a)-\epsilon )<0$.

Mit dem Verfahren aus 1 kann man zeigen, dass eine Umgebung $\!\ U_{a}$ von $\!\ a$ existiert, sodass

$\!\ g(a)-\epsilon <g(a)<g(a)+\epsilon$ für alle $a\in U_{a}$.

Daraus folgt

$\!\ |g(x)-g(a)|<\epsilon$ für $\!\ a\in U_{a}$.

Somit ist $\!\ g$ stetig im Punkt $\!\ a$.

$\!\ \Box$