Adventskalender 2007: Türchen 14

»Die Leiden und Freuden des Winters«[1] – Teil 2

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Gottlieb Peuker suchte unter dem Kleiderschrank ein Tintenfläschchen und eine Feder hervor, prüfte die arg verrostete lange auf seinem Daumennagel, nahm endlich einen Briefbogen aus der Tischschublade und fing an zu schreiben. Er stöhnte ein paarmal leise dabei, und die Feder kratzte jämmerlich, aber es lag ein schöner Zug auf dem Gesicht des alten Schreibers. Peterle las indessen in einem Buch über den Krieg von 1864. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann sagte Gottlieb:

„Nu werd' ich dir meinen Aufsatz vorlesen. Die Leiden und Freuden des Winters, Aufsatz von Peterle.“

„Der Winter ist nicht sehr schön, weil ich lieber barfuß gehe als in den schweren Holzlatschen. In Holzlatschen kann man gar nicht schnell rennen. Mein Vater geht im Winter in die Fabrik, aber die Mutter verdient weniger. Da können wir bloß Sonntags Fleisch essen. Und Wurst gibt es gar nicht. Im Sommer ist die Kost besser. Sonst gibt es nicht viel Leiden in Teichau. Bloß die alte Pätzolden hat es schlecht, weil sie Botenfrau ist, und der Briefträger und der Wilke-Bauer, der immer die Gicht kriegt. Ich muß mich auch immer sehr wurmen, weil ich keinen Schlitten und keine Schlittschuhe habe. Wenn ich die 1 M. 50 Pf., die ich gespart hatte, weil ich im Sommer immer auf Arbeit gehe, nicht hätte auf ein Halstüchel gebraucht, da hätt' ich Schlittschuhe und es wär' eine Freude des Winters. Der Winter hat auch seine Freuden. Ich stehe erst um halb 8 Uhr auf. Das paßt mir. Und ich schmeiß' alle Jungen und Mädel mit Schnee. Das paßt mir auch. Der Kaufmann freut sich, weil er viel Petroleum verkauft. Mein Freund, der alte Gottlieb Peuker, freut sich auch, weil er nichts zu tun hat und immerzu Pfeife rauchen kann. Alle Leute sind im Warmen, sogar die im Gemeindehause. Alle haben zu essen. Es ist eine Freude des Winters, daß wir den Herrn Dr. Friedlieb haben. Und der Hund freut sich, weil er am Ofen liegt. Das Feld freut sich, weil es nicht gepflügt und nicht gekratzt und nicht gewalzt und nicht geschnitten wird. Aber dem Felde sieht man die Freude nicht an, man kann sich's bloß denken. Die Hasen freuen sich nicht sehr. Das is, weil sie Faulpelze und Dummriane sind. Zu Weihnachten haben wir keine Schule. Da freuen wir uns mächtig darüber.“

„Fertig?“ schloß Gottlieb. „Was meinste zu meinem Aufsatz?“

Peterle starrte ihn an. Vor Erstaunen hatte er keinen Einspruch gewagt. Jetzt raffte er sich auf:

„Keile tätste kriegen“, sagte er. „Übergebuckt würd'st du! Zeig' amal her!“

Gottlieb reichte ihm den Briefbogen. Da las Peterle und stieß viele Schreie jubelnden Entsetzens aus und nahm Gottliebs Feder und fing an anzustreichen. Am Schluß holte er tief Atem.

„35 Fehler ohne die Komma“, sagte er. „Ungenügend! Liederlich! Nachsitzen! Noch einmal! Strafe!“

Gottlieb lächelte verlegen.

„'s is noch nich alles“, sagte er. „Du mußt amal a Bogen umdrehen.“

Da wandte Peterle das Papier und las noch:

„Eine sehr große Freude des Winters ist es, wenn der alte Gottlieb einen Aufsatz schreibt und so viel Fehler macht, daß man sich halbtot lachen muß. Und dann ist es auch eine große Freude des Winters, daß mir der Gottlieb zu Weihnachten ein Paar Schlittschuhe kauft und mir morgen im Holzschuppen einen kleinen Schlitten macht.“

Peterle wurde blaß vor Schreck.

„Das is ja nich wahr –“

„Nu, hast du's nich schriftlich? Da wird's doch wahr sein.“

„Ein Paar Schlittschuh! Einen Schlitten! Da muß ich heim!“

Er machte drei wilde Freudensprünge, nahm das Papier und raste davon. Aber er kam bald wieder und guckte verlegen zur Tür herein.

„Gelt, Gottlieb, du bist doch nich böse, weil ich das von den 35 Fehlern gesagt hab'?“

„Nee, nee, Peterle, die uff der zweiten Seite haste ja nich mitgerechnet.“

Was können wir daraus lernen?

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Dieser kleine Auszug aus „Der Sohn der Hagar“ lehrt uns, dass nicht immer alles so ist, wie man es in der Schule lernt. Das ist der vordergründige Teil.

Wir können aus diesem Stück aber bestimmte Regeln ableiten, wie man einen schönen, ansprechenden Schreibstil bekommt. Ein schöner, ansprechender Schreibstil lebt von der Schlagkraft der Worte; es ist zu bedauern, dass viele beim Schreiben in einen phrasenhaften Papierstil verfallen, der sehr hölzern klingt und keine Lust auf das Weiterlesen macht. Der Papierstil ermüdet. Dies ist an dem Aufsatz von Peterle deutlich zu erkennen.

Der Aufsatz von Gottlieb Peuker hingegen lebt von den Worten. Er schreibt nicht leere Worthülsen sondern bringt lebendige Beispiele – so wie jeder mit einem anderen sprechen würde. Auch sucht Gottlieb nicht den Ausdruck, sondern er verwendet ihn so, wie er ihm geradewegs einfällt. Gottlieb schreibt auch nur von Sachen, die er weiß und kennt. Genau das ist der Grund dafür, dass er keinen gesuchten Ausdruck, keine leeren Worte verwenden muss.

Letztendlich formuliert Gottlieb kurz und knapp ohne viele Adjektive; er benutzt Verben um seine Gedanken auszudrücken. Sie sind das Rückgrat des Satzes.

Wenn du ein bisschen mehr darüber erfahren möchtest, wie du deinen Schreibstil verbessern kannst oder auf was du achten musst, besuche doch die Kleine Schreibkunst von Marco Prestel.



  1. Auszug aus Der Sohn der Hagar (Zwölftes Kapitel) von Paul Keller


Das Türchen vom 13 Dez. Das Türchen vom 15 Dez.