A Poem a Day/ 14. November: Der Erlkönig (Johann Wolfgang von Goethe)

Der Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe (*1749-†1832)

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Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? -
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron und Schweif? -
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -
"Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand."
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlkönig mir leise verspricht? -
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. -
"Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein."
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? -
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. -
"Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! -
Dem Vater grauset's, er reitet geschwind,
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Eine Ballade aus dem Jahre 1782

Statements

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Wieder eine dramatische Geschichte für dunkle neblige Novemberabende.

Vordergründig sieht man einen Vater, der seinen Sohn, welcher vermutlich im Fieberwahn liegt zu trösten versucht, und mit Vernunftsargumenten die Todesangst des Kindes zerstreuen möchte. Man könnte sich durchaus fragen, ob man im Angesicht des Todes nicht eher auf das hören sollte, worauf das Kind eigentlich eingehen möchte (Seine eigene Todesangst).

Hintergründig versucht der Erlkönig mit den Vorzügen seiner Töchter zu locken, und er selbst scheint auch recht zweifelhafte Interessen an dem Knaben zu hegen. Auch wenn es zweifelhaft ist, ob die Verse "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." auf eine Form der Kindesmisshandlung hinweist, könnte man die Frage stellen, ob der Sohn nicht noch leben könnte, wenn der Vater die ersten Andeutungen des Sohnes frühzeitig ernst genommen hätte.