Konvergenzradius von Potenzreihen – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

In diesem Kapitel werden wir zeigen, dass jede Potenzreihe einen Konvergenzradius besitzt. Das ist eine reelle Zahl , so dass die Potenzreihe für alle mit absolut konvergiert und für alle mit divergiert. Dabei kann auch und gelten. Für den Grenzfall kann keine allgemeine Konvergenzaussage getroffen werden. Zur Berechnung des Konvergenzradius werden wir zwei Formeln herleiten. Die Formel von Cauchy-Hadamard werden wir aus dem Wurzelkriterium und die Formel von Euler aus dem Quotientenkriterium herleiten. Außerdem werden wir noch zahlreiche Beispiele zur Berechnung des Konvergenzradius durchdiskutieren.

Definition und Existenz des Konvergenzradius Bearbeiten

Wir wissen bereits, dass beispielsweise die geometrische Reihe   oder die für alle   mit   absolut konvergiert und für alle   mit   divergiert. Es gilt also  . Die Frage ist nun, ob so eine Grenzzahl, der sogenannte Konvergenzradius, für jede Potenzreihe existiert. Zunächst definieren wir dazu:

Definition (Konvergenzradius)

Sei   eine Folge und   die zugehörige Potenzreihe. Dann heißt

 

der Konvergenzradius der Potenzreihe.

Wir zeigen nun, dass dieser Konvergenzradius tatsächlich für jede Potenzreihe existiert:

Satz (Existenz des Konvergenzradius)

Sei   eine Folge,   die zugehörige Potenzreihe und  . Dann gilt:

  1. Die Potenzreihe konvergiert für alle   mit  .
  2. Die Potenzreihe divergiert für alle   mit  .

Beweis (Existenz des Konvergenzradius)

Beweisschritt: Hilfsaussage: Konvergiert die Potenzreihe in   , so konvergiert sie in jedem Punkt   mit   absolut.

Da nach Voraussetzung   konvergiert, ist nach dem Trivialkriterium   eine Nullfolge. Da konvergente Folgen beschränkt sind, gibt es eine Schranke   mit  . Damit folgt für   mit  :

 

Dabei ist  . Also konvergiert die geometrische Reihe   absolut. Mit dem Majorantenkriterium konvergiert die Reihe   ebenfalls absolut.

Beweisschritt: Ist   mit  , so konvergiert   absolut.

Sei   mit  . Nach der Definition des Supremums gibt es ein   mit  , für das   konvergiert. Mit der Hilfsaussage aus dem 1. Beweisschritt folgt damit, dass   absolut konvergiert.

Beweisschritt: Ist   mit  , so divergiert  .

Sei   mit  . Wir führen hier einen Widerspruchsbeweis: Wir nehmen an, dass   konvergiert. Nach der Definition des Supremums gibt es erneut ein   mit  . Mit der Hilfsaussage aus dem 1. Beweisschritt konvergiert dann aber  . Diese ist aber ein Widerspruch zu  . Also kann   nicht konvergieren.

Beispiel (Geometrische Reihe und Verwandtes)

  • Wir haben oben und im Kapitel zuvor schon gesehen, dass die geometrische Reihe   den Konvergenzradius   hat.
  • Ebenso haben die mit der geometrischen Reihe verwandten Reihen   und   den Konvergenzradius  , denn ist  , so gilt   für alle  . Daher konvergiert die Reihe   Majorantenkriterium mit der geometrischen Reihe als Majorante. Ist andererseits  , so divergiert   gegen  , als Quotient der geometrischen Folge   mit der Potenzfolge  . Nach dem Trivialkriterium divergiert die Reihe. Bei der Reihe   kann man ganz analog argumentieren.

Hinweis

Im Reelen grenzt der Konvergenzradius anschaulich den Bereich auf der Zahlengerade, in dem die Potenzreihe   absolut konvergiert (das Intervall  ), von den Bereichen ab, in denen die Potenzreihe divergiert (die Intervalle   und  ).
 
Veranschaulichung des Konvergenzradius

Hinweis

Analog zum Konvergenradius von Potenzreihen, haben Dirichlet-Reihe, das sind Reihen der Form   mit  , eine Konvergenzabszisse  , so dass die Reihe für alle   konvergiert und für alle   divergiert. Wir werden hier Dirichlet-Reihen nicht genauer besprechen, da sie nicht Bestandteil der meisten Analysis-Grundvorlesungen sind. Wer Interesse an Dirichlet-Reihe hat kann sich gerne der entsprechenden Übungsaufgabe widmen.
 
Veranschaulichung der Konvergenzabszisse

Formeln zur Berechnung des Konvergenzradius Bearbeiten

Zur praktischen Anwendung werden wir nun zwei Formeln für den Konvergenzradius herleiten. Dabei werden wir die erste aus dem Wurzelkriterium und die zweite aus dem Quotientenkriterium herleiten.

Einstiegsbeispiel Bearbeiten

Dabei schauen wir uns zunächst als konkretes Beispiel die Reihe   an.

Anwendung des Wurzelkriteriums Bearbeiten

Wir erhalten

 

Also konvergiert die Reihe absolut für alle   mit   und divergiert für alle   mit  . Sie besitzt damit den Konvergenzradius  . Da immer   gilt, kann man bei Potenzreihen   auch direkt dem Limes Superior von   bilden. Genauer betrachtet gilt

 

Diese Formel heißt die Formel von Cauchy-Hadamard. Wir werden sie weiter unten allgemein für jede Potenzreihe beweisen.

Anwendung des Quotientenkriteriums Bearbeiten

Hier erhalten wir

 

Also folgt ebenso, dass die Reihe für alle   mit   absolut konvergiert und für alle   mit   divergiert. Damit folgt der Konvergenzradius

 

Diese Formel heißt die Formel von Euler. Wir werden diese nun ebenso allgemein beweisen.

Die Formeln von Cauchy-Hadamard und Euler Bearbeiten

Nun zeigen wir allgemein

Satz (Die Formeln von Cauchy-Hadamard und Euler)

Sei   eine Potenzreihe und   der Konvergenzradius der Potenzreihe. Dann gilt

  1.   mit   (Formel von Cauchy-Hadamard)
  2.   mit  , falls der Grenzwert existiert (Formel von Euler)

Dabei gilt hier   und  .

Beweis (Die Formeln von Cauchy-Hadamard und Euler)

Beweisschritt:   mit  

Fall 1:  

 

Mit dem Wurzelkriterium konvergiert die Potenzreihe für alle   mit   und divergiert für alle   mit  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Fall 2:  

Für   gilt dann

 

Mit dem Wurzelkriterium konvergiert die Potenzreihe für kein   mit  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Fall 3:  

 

Mit dem Wurzelkriterium konvergiert die Potenzreihe für alle  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Beweisschritt:   mit  

Fall 1:  

 

Mit dem Quotientenkriterium konvergiert die Potenzreihe für alle   mit   und divergiert für alle   mit  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Fall 2:  

Für   gilt dann

 

Mit dem Quotientenkriterium konvergiert die Potenzreihe für kein   mit  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Fall 3:  

 

Mit dem Quotientenkriterium konvergiert die Potenzreihe für alle  . Also gilt für den Konvergenzradius  .

Hinweis

Bei den Vor- und Nachteilen der beiden Formeln, verhält es sich genauso als beim Vergleich zwischen Quotienten- und Wurzelkriterium. Mit der Formel von Euler ist der Konvergenzradius im Allgemeinen leichter zu bestimmen, jedoch ist sie nicht immer anwendbar. Und zwar dann, wenn der Grenzwert   nicht existiert, oder wenn der Quotient nicht definiert ist. Beispiele dafür sind die Sinus- und Kosinusreihe weiter unten. Ein Beispiel, bei dem die Formel von Euler deutlich einfacher anzuwenden ist, ist die Binomialreihe.

Beispiele Bearbeiten

Die geometrische Reihe und Verwandtes Bearbeiten

Beispiel (Konvergenzradius der geometrischen Reihe)

Wie wir schon wissen hat die geometrische Reihe   den Konvergentradius  . Wir überprüfen dies nochmal mit unseren beiden neuen Formeln:

Die Formel von Cauchy-Hadamard ergibt

 

Ebenso erhalten wir dies aus der Euler-Formel:

 

Beispiel (Konvergenzradius von mit der geometrischen Reihe verwandten Reihen)

Ebenso haben die Reihe   und   den Konvergentradius  .

Die Formel von Cauchy-Hadamard ergibt für die erste Reihe mit  :

 

Also ist der Konvergenradius gleich  .

Mit der Formel von Euler-Formel ergibt sich ebenso für die zweite Reihe mit  :

 

Also ist der Konvergenradius gleich  . Natürlich hätten wir auch den Konvergenzradius der ersten Reihe mit der Formel von Euler und den der zweiten Reihe mit der Formel von Cauchy-Hadamard bestimmen können.

Verständnisfrage: Gib zwei weitere Potenzreihen an, die den Konvergenzradius   haben.

Es gibt natürlich unendlich viele Beipiele. Zwei weitere Potenzreihen mit Konvergenzradius   sind beispielsweise   und  .

Die Binomialreihe Bearbeiten

Beispiel (Konvergenzradius der Binomialreihe)

Ein Beispiel einer Potenzreihe, bei dem die Formel von Euler deutlich einfacher anzuwenden ist als die Formel von Cauchy-Hadamrd ist die Binomialreihe   mit  .

Bei der Formel von Cauchy-Hadamard müssten wir   bestimmen, was nicht so ohne weiteres möglich ist. Die Formel von Euler hingegen ist wesentlich einfacher anzuwenden, denn es ergibt sich

 

Also hat die Binomialreihe   für alle reellen   ebenfalls den Konvergenzradius  .

Exponential-, Sinus- und Kosinusreihe Bearbeiten

Beispiel (Konvergenzradius der Exponentialreihe)

Ein Beispiel einer Potenzreihe, die für alle   konvergiert ist die Exponentialreihe  .

Bei der Formel von Cauchy-Hadamard müssen wir hier   bestimmen, was nicht so einfach ist, außer der Grenzwert   ist bekannt. Die Formel von Euler hingegen ist erneut ohne weiteres anwendbar und liefert

 

Also hat die Exponentialreihe   den Konvergenzradius  .

Beispiel (Konvergenzradius der Sinusreihe)

Ein Beispiel einer Potenzreihe, dbei der die Formel von Euler nicht anwendbar ist, ist die Sinusreihe

 

Bei dieser Reihe sind alle geraden Koeffizienten gleich  . D.h. es gilt

 

Die Formel von Euler ist bei dieser Potenzreihe nicht anwendbar, da man im Quotienten   durch null teilen würde, falls   gerade ist. Die Formel von Cauchy-Hadamard hingegen ist anwendbar, falls der Grenzwert   bekannt ist. Denn es gilt

 

Also hat die Sinusreihe   den Konvergenzradius  .

Ein eleganterer und kürzerer Beweis für den Konvergenzradius nutzt das Majorantenkriterium mit der Exponentialreihe als Majorante. Es gilt nämlich mit der Definition der Koeffizienten   der Sinusreihe von oben:

 

Da die Exponentialreihe   für alle   absolut konvergiert, konvergiert mit dem Majorantenkriterium die Sinusreihe ebenfalls für jedes   absolut. Also ist der Konvergenzaradius der Sinusreihe ebenfalls gleich  .

Sehr ähnlich kann man zeigen, dass die Kosinusreihe   ebenfalls den Konvergenzradius   hat.

Aufgabe (Konvergenzradius der Kosinusreihe)

Bestimme den Konvergenzradius der Kosinusreihe  .

Beweis (Konvergenzradius der Kosinusreihe)

Bei der Kosinusreihe

 

Bei dieser Reihe sind alle ungeraden Koeffizienten gleich  . D.h. es gilt

 

Die Formel von Euler ist, wie schon bei der Sinusreihe, auch hier nicht anwendbar, denn im Quotenten   ist der Nenner für ungerade   gleich null. Die Formel von Cauchy-Hadamard hingegen ist erneut anwendbar. Es gilt

 

Also hat die Kosinusreihe   ebenfalls den Konvergenzradius  .

Alternativer Beweis (Konvergenzradius der Kosiunsreihe mit Majorantenkriterium)

Erneut können wir alternativ das Majorantenkriterium mit der Exponantialreihe als Majoranten anwenden. Es gilt

 

Da die Exponentialreihe   für alle   absolut konvergiert, konvergiert mit dem Majorantenkriterium die Kosinusreihe ebenfalls für jedes   absolut. Der Konvergenzradius ist daher  .

Aufgaben zur Bestimmung des Konvergenzradius Bearbeiten

Aufgabe (Konvergenzradius von Potenzreihen)

Bestimme jeweils den Konvergenzradius der folgenden Potenzreihen.

  1.   mit  
  2.  
  3.  
  4.  
  5.   mit  

Lösung (Konvergenzradius von Potenzreihen)

  • Lösung zu Teilaufgabe 1: Die Formel von Cauchy-Hadamard ergibt mit  :
     

    Also ist der Konvergenradius gleich  .

    Alternativ ist die Formel von Euler-Formel anwendbar und ergibt ebenso:

     

    Also ist auch hier  .

  • Lösung zu Teilaufgabe 2: Hier ist die Formel von Cauchy-Hadamard sogar einfacher. Sie ergibt unmittelbar mit  :
     

    Also ist der Konvergenradius gleich  .

    Die Formel von Euler-Formel ist ebenfalls anwendbar, wir benötigen jedoch den Grenzwert  . Damit ist

     

    Also ist auch hier  .

  • Lösung zu Teilaufgabe 3: Die Formel von Cauchy-Hadamard ist hier sehr schwierig anwendbar, denn wir müssten den Grenzwert   bestimmen, was nicht so ohne Weiteres möglich ist. Die Formel von Euler-Formel ist deutlich einfacher anwendbar. Erneut unter Zuhilfenahme des Grenzwerts   ergibt sich
     

    Also ist auch hier  .

  • Lösung zu Teilaufgabe 4: Bei der Potenzreihe   gilt für die Koeffizienten
     

    Die Formel von Euler ist bei dieser Potenzreihe nicht anwendbar, da für alle   man im Quotienten   durch null teilen würde. Die Formel von Cauchy-Hadamard ist hingegen anwendbar und es gilt

     

    Also hat die Reihe den Konvergenzradius  .

    Alternativ können wir hier auch direkt argumentieren, da die Bauart der Reihe sehr einfach ist:

    1. Ist  , so gilt  , und da die geometrische Reihe   für   absolut konvergiert, konvergiert die Reihe   mit dem Majorantenkriterium ebenfalls absolut.
    2. Ist  , so gilt  , also kann   keine Nullfolge sein. Mit dem Trivialkriterium divergiert die Reihe daher in diesem Fall.

    Also folgt so ebenfalls  .

  • Lösung zu Teilaufgabe 5: Bei dieser Potenzreihe ist die Formel von Euler nicht geeignt, da mit   der Quotient   schwer zu untersuchen ist. Bei der Formel von Cauchy-Hadamard erhalten wir die Folge  . Diese lässt sich mit Hilfe einer Fallunterscheidung untersuchen:
    1. Ist  , so gilt:  . Wegen   folgt nun mit dem Der Sandwichsatz  .
    2. Ist  , so gilt analog:  . Wegen   folgt nun mit dem Der Sandwichsatz  .
    Insgesamt ergibt sich  . Für den Konvergenzradius der Potenzreihe folgt damit
     

Ähnliche, ganz hervoragende, Aufgaben zum Potenzradius finden sich am Ende des Kapitels im Aufgabenteil.

Verhalten auf dem Rand des Konvergenzradius Bearbeiten

Am Beipiel der drei Potenzreihen  ,   und   kann man erkennen, dass das Verhalten auf dem Rand der Konvergenzradius (hier  ) sehr unterschiedlich sein kann:

  • Für die geometrische Reihe   gilt: Sowohl für   also auch für   divergieren die Reihen   und   jeweils mit dem Trivialkriterium, da die Folgen   und   keine Nullfolgen sind.
  • Für die Reihe   gilt: Für   konvergiert die Reihe   mit dem Leibniz-Kriterium, da die Folge   eine monoton fallende Nullfolgen ist. Für   hingegen ergibt sich die harmonische Reihe  , welche bekanntlich divergiert.
  • Für die Reihe   gilt: Sowohl für   als auch für   konvergiert die Reihe. Für   ergibt sich die Reihe der reziproken Quadratzahlen  , welche bekanntlich (absolut) konvergiert. Ebenso konvergiert für   die Reihe  , wegen   und da jede absolut konvergente Reihe konvergiert.

Eine Reihe , die ebenfalls den Konvergenzradius   hat, deren Konvergenzverhalten auf dem Rand des Konvergenzradius jedoch schwieriger zu bestimmen ist, ist die Binomialreihe  . Für den Fall   kann man dazu das Konvergenzkriterium von Raabe verwenden. Ebenso kann man für verschiedene Werte von   die Konvergenz auch mit dem Majoranten- bzw. Leibniz-Kriterium bestimmen. Siehe hierzu die entsprechende Übungsaufgabe im Aufgabenteil.

Hinweis

Hat eine Potenzreihe   den Konvergenzradius  , so kann keine allgemeine Aussage über das Konvergenzverhalten der Potenzreihe für   gemacht werden.
 
Veranschaulichung des Konvergenzradius mit Randwerten

Für Potenzreihen mit Konvergenzradius   wollen wir noch festhalten:

  1. Ist  , so ergibt sich die Reihe  . Diese Reihe kann dann mit den bekannten Konvergenzkriterien untersucht werden.
  2. Ist  , so ergibt sich die Reihe  . Nach dem Leibniz-Kriterium konvergiert die Reihe, falls   eine monoton fallende Nullfolge ist.