Zweideutigkeit als System - Thomas Manns Forderung an die Kunst: Leiden und Größe Richard Wagners

Entstehung: Mitte Dezember 1932 bis Ende Januar 1933

"Auf jeden Fall bleibt Wagner für mich der Künstler, auf den ich mich am besten verstehe und in dessen Schatten ich lebe." [1] Und ein weiteres Eingeständnis: "Wagner war mein stärkstes, bestimmendstes künstlerisches Erlebnis." [2] Doch hält diese Priorität nicht ein Leben lang vor. Im amerikanischen Exil wird sich Thomas Mann mehr und mehr mit Goethe identifizieren. Der Paradigmenwechsel findet seinen Niederschlag in dem Goetheroman Lotte in Weimar (1939). Wagner sei die große Passion seiner Jugend gewesen.[3]

Anlass für den Wagner-Essay war das Ersuchen der Goethe-Gesellschaft, am 10.2.1933, zur fünfzigsten Wiederkehr des Todestages von Richard Wagner, einen Festvortrag im Auditorium maximum der Universität München zu halten.[4] Beim Schreiben wuchs sich das Vortragsmanuskript zu einer größeren Abhandlung aus. Der eigentliche Vortragstext musste auf einen Auszug reduziert werden.

In Vortrag und Essay äußert sich Thomas Mann pointiert über Komik und Tragik in der Kunst. Zu ihrer gegenseitigen Durchdringung im Kunstwerk schreibt er, "dass Tragödie und Posse aus ein und derselben Wurzel kommen. Eine Beleuchtungsdrehung verwandelt die eine in die andere; die Posse ist ein geheimes Trauerspiel, die Tragödie – zuletzt – ein sublimer Jux." - Irrendes Handeln als "sublimer Jux".

Bezogen auf das Naturell des Künstlers fährt Thomas Mann fort: "Der Ernst des Künstlers – ein nachdenkliches Kapitel." [5] "Neue «Wahrheits»- Erlebnisse bedeuten dem Künstler neue Spielreize und Ausdrucksmöglichkeiten, weiter nichts. Er glaubt genau so weit an sie – er nimmt sie genau so weit ernst – als es erforderlich ist, um sie zum höchsten Ausdruck zu bringen und den tiefsten Eindruck damit zu machen. Es ist ihm folglich sehr ernst damit, zu Tränen ernst, - aber nicht ganz und also gar nicht." Sein künstlerischer Ernst ist "Ernst im Spiel".

In dem vielschichtigen Essay zieht Thomas Mann Parallelen zwischen Ibsen und Wagner. Beide nennt er Magier. "Denn nordische Magier, schlimm verschmitzte alte Hexenmeister waren sie beide, tief bewandert in allen Einflüsterungskünsten einer so sinnigen wie ausgepichten Teufelsartistik, groß in der Organisation der Wirkung, im Kultus des Kleinsten, in aller Doppelbödigkeit und Symbolbildung, in diesem Zelebrieren des Einfalls, diesem Poetisieren des Intellekts." [6] "Beide sind sie schöpferisch in dem perfektionierend-übersteigernden Sinn, dass sie aus dem Gegebenen das Neue und Ungeahnte entwickeln." [7]

Was hier über Kunst und persönlichen Stil der beiden ´Magier´ angemerkt wird, trifft auch auf den ´Zauberer´ Thomas Mann zu. [8] Für Leser, die das Gesamtwerk überblicken, kündigen "Einflüsterungskünste einer so sinnigen wie ausgepichten Teufelsartistik" bereits ein Motiv an, das zehn Jahre später in Doktor Faustus zum "General-Thema" wird.[9]

Dem Kunstwerk spricht Thomas Mann einen "metaphysischen Eigenwillen" zu, mit dem es nach Verwirklichung strebe. Der Künstler sei nur das "Werkzeug" und seine Mühen ein "freiwillig-unfreiwilliges Opfer." [10] In der kleinen Schiller-Erzählung Schwere Stunde (1905) hatte er das Werk, die künstlerische Arbeit "eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis" genannt. [11] Im Vortrag Lübeck als geistige Lebensform (1926) führt Thomas Mann aus: "Es ist etwas höchst Merkwürdiges um diesen Eigenwillen eines Werkes, das werden soll, das ideell eigentlich schon da ist, und bei dessen Verwirklichung den Autor selbst die größten Überraschungen treffen." [12]

Der Philosophie Platons folgend, sah Thomas Mann im Kunstwerk das wieder zur Idee verdichtete "reine Urbild des Seins, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinung lieh." [13]

Am Beispiel Richard Wagners wird die "Verführungsmacht" der Kunst angesprochen. [14] Große Kunst ist suggestiv. Unreflektiert scheinen ihre Aussagen dem Rezipienten zutiefst wahrhaftig, - müssen diese Wirkung auch erzielen, wenn es sich um große Kunst handelt. In einem Brief an die Lübecker Dichterin Ida Boy-Ed charakterisiert der neunundzwanzigjährige Thomas Mann das Kunsterlebnis mit dem Paradoxon "Wirklichkeitsillusion", - erzielt durch "die außerordentliche Kraft der Darstellung". [15]

"Die Kunst, welch ein Betrug um wahrhaftes Sinnenglück und um das Heil zugleich sie nun sei - das Werk, dank elastischer Kräfte, die er [Richard Wagner] im Stillen bewundern muss, schreitet unaufhaltsam fort." [16] Die Kunst als Surrogat für "wahrhaftes Sinnenglück" mag auf Wagner zutreffen. Doch eher spricht sich hier Thomas Mann aus. Er hat sein selbst verhängtes (homoerotisches) Liebesverbot mit Hilfe der Kunst ertragen, sich durch das "höhere Leben", das künstlerisches Schaffen ihm bedeutete, entschädigt gesehen.


Q u e l l e n :

  1. Thomas Mann am 4.6.1920 an Ernst Bertram
  2. am 25.5.1926 an Ernst Fischer
  3. am 18.2.1952 an Roger de Campagnolle
  4. Georg Potempa: Thomas Mann-Bibliographie. Morsum/Sylt: Cicero Presse 1992, S. 401
  5. Mann, Thomas: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann - Fischer Verlag 1945,S. 434
  6. a. a. O. S. 403
  7. a. a. O. S. 404
  8. Mendelssohn, Peter de : Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1975
  9. Thomas Mann am 23.9.1945 an Karl Kerény über «Doktor Faustus»: "Das Teufelsbündnis ist das General-Thema des Buches."
  10. Mann, Thomas: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann - Fischer Verlag 1945, S. 428
  11. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: Das Wunderkind. Berlin: S. Fischer Verlag 1914, S. 31
  12. Mann, Thomas: Lübeck als geistige Lebensform. Lübeck: Quitzow 1926, S. 17
  13. Mann, Thomas: Schwere Stunde. In: Das Wunderkind. Berlin: S. Fischer Verlag 1914, S. 41
  14. Mann, Thomas: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann - Fischer Verlag 1945, S. 432
  15. Thomas Mann am 22.02.1904 an Ida Boy-Ed
  16. Mann, Thomas: Adel des Geistes. Stockholm: Bermann - Fischer Verlag 1945, S. 433


Partieller Gleichklang mit dem gleichnamigen Wikipedia-Artikel beruhen auf der Identität des Verassers.


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