Vektorraum – Serlo „Mathe für Nicht-Freaks“

In diesem Kapitel definieren wir den Begriff des Vektorraums, welcher die Grundlage für die Theorie der linearen Algebra bildet. Vektorräume bestehen aus Objekten, die man addieren und skalieren kann. Dabei besitzen die Addition und die Skalierung gewisse Eigenschaften.

Wiederholung: Intuition hinter einem Vektorraum Bearbeiten

Hauptartikel: Einführung in den Vektorraum

Der Begriff des Vektorraums abstrahiert die wesentlichen Eigenschaften der Ebene   und des Raums  . In diesen beiden Mengen können wir uns Vektoren als Pfeile vorstellen, die man addieren und skalieren kann:

Hier setzt der allgemeine Vektorraumbegriff an: Es gibt noch mehr Mengen mit ähnlichen Eigenschaften. Auch Polynome können addiert und skaliert werden. Diese Verknüpfungen ähneln stark den von Vektoren. So korrespondiert die Addition und skalare Multiplikation von Polynomen zweiten Grades mit den jeweiligen Operationen im  :


 


Und:


 


Der Vektorraumbegriff verallgemeinert damit die Ebene   und den Raum   auf andere Strukturen mit ähnlichen Eigenschaften. Er besagt: Vektoren sind Objekte, die man wie Vektoren aus   bzw.   addieren und skalieren kann.

Definition eines Vektorraums Bearbeiten

Wir wollen einen allgemeinen Vektorraum   über dem Körper   definieren. Dazu nutzen wir die zwei Verknüpfungen   für die Vektoraddition und   für die Vektorskalierung.

Definition (Vektorraum)

Sei   eine nichtleere Menge mit einer inneren Verknüpfung   (der Vektoraddition) und einer äußeren Verknüpfung   (der skalaren Multiplikation). Die Menge   mit diesen beiden Verknüpfungen heißt Vektorraum über dem Körper   bzw.  -Vektorraum, wenn folgende Axiome gelten:

  •   bildet zusammen mit der Verknüpfung   eine abelsche Gruppe. Das heißt, folgende Axiome sind erfüllt:
    1. Assoziativgesetz: Für alle   gilt:  
    2. Kommutativgesetz: Für alle   gilt:  
    3. Existenz eines neutralen Elements: Es gibt ein Element  , so dass für alle   gilt:  . Dieser Vektor   heißt neutrales Element der Addition oder Nullvektor.
    4. Existenz eines inversen Elements: Zu jedem   gibt es ein Element  , so dass gilt:  .   heißt inverses Element zu  . Statt   schreiben wir auch  .
  • Zusätzlich müssen folgende Axiome der skalaren Multiplikation   erfüllt sein:
    1. Skalares Distributivgesetz: Für alle   und alle   gilt:  
    2. Vektorielles Distributivgesetz: Für alle   und alle   gilt:  
    3. Assoziativgesetz für Skalare: Für alle   und alle   gilt:  
    4. Neutrales Element der skalaren Multiplikation: Für alle   und für   (das neutrale Element der Multiplikation in  ) gilt:  . 1 heißt neutrales Element der skalaren Multiplikation.

Anstelle von „ “ schreibt man oft auch „ “. Die letzte Schreibweise macht deutlich, dass zur Menge   die Verknüpfungen   und   gehören.

Hinweis

Wir verwenden die Symbole „ “ und „ “, um sie von der Addition „ “ und der Multiplikation „ “ zu unterscheiden. In der Literatur wird diese Unterscheidung häufig nicht getroffen und aus dem Kontext wird deutlich, ob beispielsweise mit „ “ eine Addition von Zahlen oder von Vektoren gemeint ist.

Bemerkungen zur Definition Bearbeiten

Das skalare und das vektorielle Distributivgesetz der skalaren Multiplikation unterscheiden sich dahingehend, dass einmal eine Aussage über die Addition im Körper und einmal über die Addition im Vektorraum gemacht wird. So stellt das skalare Distributivgesetz eine Beziehung zwischen der Körperaddition und der Vektoraddition her:

 

Im Gegensatz dazu sagt das vektorielle Distributivgesetz etwas darüber aus, wie sich die Vektoraddition unter einer Skalierung verhält:

 

Beim Assoziativgesetz für Skalare findet links vom Gleichheitszeichen einmal die Multiplikation im Körper und einmal eine skalare Multiplikation statt, während rechts vom Gleichheitszeichen jeweils die skalare Multiplikation angewendet wird:

 

Das skalare Distributivgesetz   verhält sich genauso wie das Distributivgesetz in Körpern. Wir werden daher zukünftig, statt umständlich   zu schreiben, die übliche Variante   nutzen. Wir unterscheiden also in unserer Schreibweise nicht mehr zwischen Körperaddition und Vektoraddition und auch nicht mehr zwischen Körpermultiplikation und skalarer Multiplikation. Welche Operation gemeint ist, ergibt sich jeweils aus dem Kontext.

Dies gilt analog auch für das vektorielle Distributivgesetz sowie für das Assoziativgesetz für Skalare. Beim vektoriellen Distributivgesetz wird aus   die Gleichung  . Beim Assoziativgesetz für Skalare wird aus   der Ausdruck  . Die Analogie der einzelnen Vektorraumaxiome zu den jeweiligen Körperaxiomen begründet also, dass wir auch für Vektorräume die Symbole „ “ und „ “ nutzen können.

Vektoren zeigen in Richtungen Bearbeiten

Wie können wir uns Vektoren vorstellen? Dazu schauen wir uns zunächst den   an, in dem eine solche Vorstellung intuitiv ist, um sie dann zu verallgemeinern.

Intuitive Betrachtung von Vektoren im   Bearbeiten

Als Vektoren   im   stellen wir uns Pfeile vor, die beim Nullpunkt beginnen und in bestimmte Richtungen zeigen. Die Richtung eines Vektors   können wir uns als die Gerade im Raum vorstellen, die alle Vielfachen des Vektors beinhaltet. Mathematisch können wir diese Richtungsgerade durch   angeben. Allerdings sehen wir, dass dann mehrere Vektoren die gleiche Richtungsgerade haben können. So zeigen die unterschiedlichen Vektoren   und   in dieselbe Richtung, haben also die gleiche Richtungsgerade. Damit werden Vektoren durch mehr als ihre Richtung charakterisiert. Sie haben auch ein Verhältnis zueinander. So steht beispielsweise   zu   im Verhältnis  , da bei Streckung des Vektors   um   der genau halb so lange Vektor   herauskommt.

In einem  -Vektor stecken also zwei Arten von Informationen: Zum einen, in welche Richtung der Vektor zeigt. Zum anderen, in welchem Verhältnis seine Länge zu der von anderen Vektoren steht, welche in die gleiche Richtung zeigen. Beide Informationen zusammen legen eindeutig fest, auf welchen Punkt der Vektor zeigt.

Richtungen und Verhältnisse in einem komplizierteren Vektorraum Bearbeiten

Dass der Richtungsbegriff und die Vorstellung von Weite im   sinnvoll sind, leuchtet uns ein. Wir wollen jetzt versuchen, die Vorstellung von Vektoren auf andere, kompliziertere Vektorräume zu übertragen. Dazu schauen wir uns den Vektorraum   über dem Körper mit fünf Elementen   an. Man kann zeigen, dass   ein Körper ist.[1]

Diesen Körper können wir uns als Kreis vorstellen, der ähnlich wie eine Uhr ein Ziffernblatt besitzt. Nur besitzt dieser Kreis fünf Ziffern, die für die fünf Elemente des Körpers   stehen:

 
Der Zahlenkörper Z modulo 5Z

  besteht also nur aus den fünf Zahlen  , wobei diese eine zyklische Struktur aufweisen:

 

Auf diesem Kreis kann man ähnlich wie auf der Uhr rechnen. So ist  :

 
Addition in Z modulo 5Z

Jetzt überlegen wir uns, wie auf dieser Vorstellung aufbauend   aussehen muss. Da wir zwei unabhängige Dimensionen benötigen, stellen wir uns   als zwei unabhängige Kreise vor. Wir nehmen einen Kreis und fügen am Nullpunkt den anderen Kreis hinzu. Insgesamt erhalten wir dann einen Torus, der allerdings aufgrund der Einteilung der Kreise mit Ziffern mit einem Gitter versehen ist. Nur die Gitterpunkte auf dem Torus sind Elemente des Vektorraums  :

 
Der Vektorraum Z/5Z^2

Die Achsen des   entsprechen in diesem Beispiel des Vektorraums   den beiden Kreisen, die den Torus bilden. Auch in diesem Beispiel haben Vektoren Richtungen. Wenn wir einen Vektor   festhalten, so zeigt dieser in eine konkrete Richtung. Alle Vielfachen des Vektors bilden die Richtungsgerade  . Auch Verhältnisse sind ausdrückbar. Da   nur aus den fünf Zahlen   besteht, sind auch nur diese fünf Verhältnisse möglich. So ist   das Doppelte von  , denn es gilt:

 

Verallgemeinerung von Richtungen und Verhältnissen Bearbeiten

Bei den vorherigen Überlegungen haben wir gesehen, dass Vektoren in Richtungen zeigen. Unterschiedliche Vektoren derselben Richtung weisen ein konkretes Verhältnis auf, welches einer Zahl des zugrundeliegenden Körpers entspricht. Nehmen wir also einen allgemeinen Vektorraum   über den Grundkörper  . Zu einem Richtungsvektor   können wir die Richtungsgerade   bilden. Alle Vektoren dieser Geraden stehen in einem konkreten Verhältnis zum Richtungsvektor  , welches durch den Skalar   festgelegt ist.